Menschennah | Geschichten aus Bethel

Wie eine Sopranistin ohne Kurzzeitgedächtnis zurechtkommt

Verflixt, wo hab‘ ich bloß den Schlüssel hingelegt? Und wie heißt gleich noch mal dieser bekannte Schauspieler? Erinnerungslücken wie diese kennen wohl die meisten von uns. In seltenen Fällen nimmt Vergesslichkeit aber gravierendere Formen an und wird zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung. So wie bei Miriam Ludewig. Die Klientin der Stiftung Eben-Ezer lebt ohne funktionierendes Kurzzeitgedächtnis. Eine Herausforderung, die sie mit der Unterstützung anderer Menschen, ihrem Handy und einer riesigen Leidenschaft meistert.  

Ohne Kurzzeitgedächtnis zu leben: Wie ist das, wie fühlt sich das an, wie kann man sich das vorstellen? Kann man nicht, sofern man nicht selbst betroffen ist. Miriam Ludewig weiß das. Dennoch versucht sie, ihre Einschränkung beim Treffen in Lemgo zu veranschaulichen. „Dass ich sofort wieder vergesse, bedeutet zum Beispiel, dass ich heute Abend nicht mehr wissen werde, dass wir uns gerade kennengelernt haben und jetzt miteinander sprechen“, sagt sie. „Mein Gedächtnis ist halt defekt.“

Umso bemerkenswerter sind ihre Fähigkeiten und ihre Tätigkeit: Die Sopranistin gestaltet mit der Kantorin und Musikpädagogin Anna Ikramova die musikalischen Beiträge in den Gottesdiensten der Kirchengemeinde Eben-Ezer und wirkt in Konzerten als Solistin mit. Wenn sie Stücke einstudiert, macht Miriam Ludewig das ohne Noten. Die hat sich die 37-Jährige aufgrund ihrer Einschränkung nie einprägen können. Stattdessen hört und sieht sie sich Ton- und Videoaufnahmen an. Auch von eigenen Proben. Immer wieder tut sie das, aber: „Miriam braucht ein Stück nur ein- bis zweimal zu hören, dann kann sie es mit ihrer Stimme reproduzieren. Was Musik angeht, hat sie ein fantastisches Gedächtnis“, staunt Anna Ikramova. Das gelte auch für schwierigste Werke, die sehr viel Gedächtnisleistung erforderten. Anna Ikramova spricht von einer einmaligen Begabung.

Es hat wohl auch mit der Magie der Musik zu tun, dass Miriam Ludewig Melodien, Rhythmen und dazugehörige Texte nicht vergisst – im Gegensatz zu anderen Informationen. „Was ich nicht aufschreibe, ist sofort weg“, sagt sie. Deshalb nutzt sie das Handy als Gedächtnisersatz. Dort hält sie vieles fest: Welche Stücke sie zu welcher Probe an welchem Termin üben muss. An welchem Datum sie zu welcher Uhrzeit wo sein soll. „Mit einer Info wie ,Nächste Woche zur gleichen Zeit wieder hier‘ kann ich nichts anfangen“, verdeutlicht sie.

»Musik ist meine Leidenschaft und mein Trost.«
Miriam Ludewig

Miriam Ludewig erzählt das ruhig, klar und mit fester Stimme. Vielleicht kann sie so sachlich darüber sprechen, weil sie ein Leben ohne Beeinträchtigung nicht kennt: Ihr Kurzzeitgedächtnis funktionierte wegen eines Genschadens von Geburt an nicht. Trotzdem kommt Miriam Ludewig heute gut zurecht. In Eben-Ezer erhält sie die Unterstützung, die sie benötigt; sie bewegt sich in festen Strukturen – und sie hat das Singen. „Musik“, sagt Miriam Ludewig, „bedeutet mir alles. Sie ist meine totale Leidenschaft und mein Trost. Sie ist das, woraus ich Energie ziehen kann; das, was mein Leben erfüllt.“

 

Text: Philipp Kreutzer | Fotos: Christian Weische

Miriam Ludewig wirkt zurzeit in einem ungewöhnlichen Projekt mit. „AufBruch“ ist ein integratives Musiktheater der Stiftung Eben-Ezer und des Ensembles Earquake der Detmolder Hochschule für Musik (HfM). Die teilnehmenden Chöre aus Eben-Ezer und der Hausmusikkreis Linde sind inklusiv. Das Projekt wird gefördert durch die Stiftung Aktion Mensch. Die Premiere von „AufBruch“ ist am Freitag, 4. November, um 17 Uhr in der Kirche Neu-Eben-Ezer. Weitere Aufführungen folgen, ebenfalls bei freiem Eintritt, am Samstag, 5. November, um 19.30 Uhr im Audienzsaal der HfM Detmold sowie am Sonntag, 13. November, um 17 Uhr in der Zionskirche in Bielefeld-Bethel.

Diese Geschichte einfach gesprochen

Miriam Ludewig lebt ohne funktionierendes Kurzzeitgedächtnis. Das bedeutet: Sie vergisst fast alles. Nur bei Musik ist das anders. Die 37-Jährige singt sehr gern und kann sich neue Stücke sehr gut merken. Sie singt in Konzerten und in Gottesdiensten der Kirchengemeinde Eben-Ezer im Lemgo. Das macht ihr große Freude.

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Kontakt

Stiftung Eben-Ezer
Volkeningweg 2-4
32657 Lemgo

05261 215-0

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Angebote & Leistungen

Die Stiftung Eben-Ezer mit Sitz in Lemgo ist eine diakonische Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Neben Betreuungsangeboten gibt es Freizeitaktivitäten, kulturelle Veranstaltungen und christlich-spirituelles Erleben, um das Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen zu pflegen.

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