Nachrichten

„Behindertenmedizin steckt noch in den Kinderschuhen“

In der medizinischen Behandlung von Menschen mit Behinderungen bedarf es besonderer Sensibilität. Foto: Paul Schulz

Universitätsprofessorin Dr. Tanja Sappok im Interview

Universitätsprofessorin Dr. Tanja Sappok, bislang in Berlin tätig, nimmt ab Januar 2023 den deutschlandweit ersten Lehrstuhl „Medizin für Menschen mit Behinderung, Schwerpunkt psychische Gesundheit“ an der Universität Bielefeld ein. Zudem wird sie Direktorin der neuen Universitätsklinik für Inklusive Medizin am Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel. Im Interview spricht sie über ihre Ideen und Pläne für den Studiengang und das Krankenhaus und über ihre Vision für die medizinische Behandlung von Menschen mit Behinderungen.

Tanja Sappok startet im Januar 2023 in Bielefeld. Foto: Elke Schöps

Frau Prof. Sappok, was möchten Sie in Ihrer neuen Tätigkeit in Bielefeld für die Behindertenmedizin erreichen?

Ich möchte Medizinstudierende für dieses spannende Themenfeld begeistern und fitmachen. Damit sie gute Ärztinnen und Ärzte werden, die Menschen mit Behinderungen gerecht werden. Außerdem möchte ich ein strukturiertes Lehrkonzept für angehende Medizinerinnen und Mediziner entwickeln, das hoffentlich auch das Interesse anderer Universitäten weckt, sodass diese spezielle Art medizinischer Behandlung an vielen weiteren Standorten ermöglicht wird. Und ich möchte Forschung und wissenschaftliches Arbeiten etablieren. Dort besteht noch erheblicher Bedarf, um eine gute, evidenzbasierte Medizin für Menschen mit Behinderungen anzubieten.

Wie würden Sie den aktuellen Zustand der Behindertenmedizin in Deutschland beschreiben?

In der medizinischen Behandlung von Menschen mit einer geistigen Behinderung waren hierzulande lange nur wenige Expertinnen und Experten tätig. Es gibt daher nur wenige Behandlungsangebote für Menschen mit Behinderungen. Die Finanzierung ist unzureichend, und die Versorgungsstrukturen entsprechen nicht den medizinischen Notwendigkeiten. Immerhin: Einen Schub gab es 2015 mit der Einführung der Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung. Seitdem entstehen deutschlandweit Ambulanzen, und somit steigt auch die Anzahl spezialisierter Ärztinnen und Ärzte sowie weiteren Fachpersonals.

Warum braucht es eine Medizin speziell für Menschen mit Behinderungen?

Einerseits aus fachlichen Gründen: Viele Behinderungen sind genetisch bedingt oder gehen einher mit Störungsbildern wie Autismus, die in der Allgemeinbevölkerung nur selten vorkommen. Ärztinnen und Ärzte müssen diese Krankheitsbilder kennen, um sie korrekt zu diagnostizieren und zu behandeln. Mindestens genauso wichtig ist die Gestaltung des Umgangs und der Untersuchung: Viele Ärztinnen und Ärzte sind überfordert, wenn sie beispielsweise einen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in ihrer Praxis haben, der nicht sprechen kann. Je besser sie auf eine solche Situation vorbereitet sind, desto größer wird der Behandlungserfolg.