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Bethel legt Rechtsgutachten zum assistierten Suizid vor

Gruppenbild vor Wand mit Bethel-Logo

Stellten das Gutachten vor: (v.l.) Pastorin Dr. Johanna Will-Armstrong, Mitglied des Vorstands der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Schwerpunkt Hospizarbeit, Präses a.D. Dr. Annette Kurschus, Vorsitzende der Ethik-Kommission der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Pia Dittke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster und Prof. Dr. jur. Thomas Gutmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster. Foto: Matthias Cremer

„Der rechtliche Rahmen für den Umgang mit Wünschen nach assistiertem Suizid in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel“ vorgelegt von Prof. Dr. Thomas Gutmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster

Das Urteil und die Folgen für Bethel

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 das Verbot von gewerblicher Suzidbeihilfe gekippt und das Recht, in jeder Lebensphase mit Beihilfe eines Dritten Suizid zu begehen, aus der grundgesetzlichen Garantie der Würde der Person betont.

Das Gericht überließ dem parlamentarischen Gesetzgeber, eine neue Regulierung zu schaffen oder von einer solchen abzusehen. Zwei fraktionsübergreifende, konkurrierende Gesetzesentwürfe bekamen im Bundestag zuletzt am 6. Juli 2023 jeweils keine Mehrheit, sodass eine verbindliche, vor allem strafrechtliche Regulierung weiterhin, auf unbestimmte Zeit nicht vorliegt.

Der assistierte Suizid ist für Bethel eine diakonische Herausforderung. Die Unterstützung einer Selbsttötung ist mit dem christlichen Verständnis des Lebens als einer Gabe Gottes nicht vereinbar. Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel haben für sich den Aufbau eines institutionalisierten und organisierten Angebotes der Hilfe zur Selbsttötung in den eigenen Einrichtungen und durch die eigenen Mitarbeitenden ausgeschlossen. Es besteht insbesondere die Befürchtung, dass die Zulassung organisierter Angebote und die Gewöhnung an die Option der Selbsttötung alte, kranke und behinderte Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen könnte, von derartigen Angeboten zur „Entlastung“ von Partnern, Angehörigen, Freunden oder der Gesellschaft Gebrauch zu machen.

Gleichzeitig bekennt sich Bethel in seinen Leitsätzen „Leben bis zuletzt“ zum Recht der Klientinnen und Klienten auf Selbstbestimmung am Lebensende. Es ist davon auszugehen, dass durch das Urteil des BVerfG in Zukunft in verstärktem Maß Mitarbeitende in Bethel damit konfrontiert werden, dass Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten Bethels einen konkreten Suizidwunsch äußern.

Aus diesem Grund und durch die weiterhin ungeklärte Gesetzeslage hat der Vorstand der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Prof. Dr. Thomas Gutmann, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Universität Münster, beauftragt, ein Rechtsgutachten vorzulegen, das den rechtlichen Rahmen für den Umgang mit Wünschen nach assistiertem Suizid in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel darlegt.

Ziel dieses Gutachtens ist es, die rechtliche Bedeutung des individuellen Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben herauszuarbeiten, zu erläutern, welche Handlungsoptionen die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, ihre Leitungsgremien und ihre Mitarbeitenden angesichts solcher Suizidwünsche, aber auch im Hinblick auf andere Formen selbstbestimmten Sterbens haben und die jeweiligen rechtlichen Grenzen dieser Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse des Gutachtens

Bethel darf stets eine lebensbejahende Haltung einnehmen und in seinen Häusern befördern, indem es Klientinnen und Klienten zum (Weiter-) Leben ermutigt, solange dies nicht in ein paternalistisches Bedrängen oder gar aktives Verhindern des Grundrechtgebrauchs umschlägt. Dem offenen, auf Einvernehmen zielenden Bemühen darum, verzweifelte Menschen dabei zu unterstützen, Orientierung im Leben zurückzugewinnen, ihnen wirtschaftlich, seelisch und sozial sowie spirituell wieder Halt zu geben, sind keine rechtlichen Grenzen gesetzt.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel stehen in allen zivilrechtlichen Rechtsverhältnissen aber auch in der Pflicht, das besonders menschenwürdenahe Grundrecht ihrer Klientinnen und Klienten auf selbstbestimmtes Sterben einschließlich des Zugangs zu Dritten, die hierfür rechtmäßige Hilfe anbieten, zu respektieren und angemessen zu berücksichtigen.

Beide Überlegungen führen zu dem Doppel-Grundsatz, (a) dass zwar einerseits niemand, auch nicht die Institution Bethel oder ihre Mitarbeitenden, dazu verpflichtet sein kann, selbst aktiv Suizidhilfe zu leisten, (b) dass die Institution Bethel als Trägerin von Kliniken, Hospizen, Heimen und anderen Einrichtungen im Rahmen der dort begründeten zivilrechtlichen Rechtsverhältnisse ihren Klientinnen und Klienten den Zugang zu assistiertem Suizid durch Dritte, die bereit sind, hierzu rechtmäßige Hilfe zu leisten, aber nicht faktisch verunmöglichen darf.

Per Weisung kann grundsätzlich geregelt werden, dass sich Mitarbeitende während der Arbeitszeit jeglicher Teilnahme an einem assistierten Suizid zu enthalten haben. Dass kraft Weisung auch etwa das unaufgeforderte Verteilen von Werbematerial einer Sterbehilfeorganisation untersagt werden kann, versteht sich von selbst. Umgekehrt gilt jedoch, dass im Rahmen des Weisungsrechts Zumutbarkeitsgrenzen („billiges Ermessen“) bestehen und insofern die Grundrechte des Arbeitnehmers und insbesondere Gewissenskonflikte (Art. 4 Abs. 1 GG) zu beachten sind.

Das Privileg der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und der ihnen zugeordneten diakonischen bzw. karitativen Einrichtungen, von ihren Mitarbeitenden besondere Loyalitätspflichten einzufordern, besteht. Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel haben das Recht, schon die Einstellung ihrer Mitarbeitenden davon abhängig zu machen, dass diese grundsätzlich die Gewähr einer besonderen Loyalität gegenüber dem Leitbild der Institution bieten.

Soweit die Einrichtungen Bethels sich selbst nicht an der Vorbereitung und Durchführung eines assistierten Suizids beteiligen, sondern diesen – aus Respekt vor der Grundrechtsposition der Patientin oder des Bewohners – nur nicht behindern, haben sie in den jeweiligen Einzelfällen grundsätzlich keine Pflicht, das Vorliegen der Voraussetzungen eines rechtmäßigen assistierten Suizids zu prüfen.

Einrichtungen können zum Eingreifen verpflichtet sein, wenn ­– und nur wenn – die Entscheidungsfreiheit des Patienten oder Bewohners nicht gegeben ist, bzw. solange diese aus faktenbasierten Gründen ernsthaft in Zweifel zu ziehen ist. Kein Behandelnder, keine Heimleitung, keine Einrichtung darf untätig bleiben, wenn erkennbar ein nicht frei verantwortlicher Suizid (oder, bei aktiver Beteiligung eines Dritten, eine rechtswidrige Tötung) droht.

Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die für sich berechtigterweise in Anspruch nehmen, auch seelsorgerisch näher an „ihren“ Klientinnen und Klienten zu sein und den Lebensschutz an die erste Stelle zu setzen, sind vielleicht besser als andere Einrichtungen in der Lage, die komplexen Überlegungen sterbewilliger Klientinnen und Klienten nachzuvollziehen, sie zu begleiten und dafür praktisch Sorge zu tragen, dass eine Entscheidung, aus dem Leben scheiden zu wollen, nicht getroffen wird, bevor auch die Gründe, die für ein Weiterleben sprechen, vor Augen liegen und geklärt ist, ob die Bereitstellung von guter palliativer Versorgung, Seelsorge, Zuwendung und Begleitung für den Patienten einen vielleicht entscheidenden Unterschied ausmachen kann.

Der Gutachter kommt zu der Überzeugung, dass sich Bethel durch seine Werthaltung und seine ethisch sensible, aber nicht verengte Diskussionskultur insgesamt in deutlicher Weise positiv von der Mehrzahl anderer Kliniken, auch Universitätskliniken, und den entsprechenden anderen Einrichtungen in Deutschland abhebt. Institutionen wie diejenigen Bethels erscheinen auch als besonders befähigt, „ein kompetentes und empathisches Beratungs- und Begleitungsangebot“ bei Suizidwünschen zu bieten, „mit dem Ziel, die Betroffenen in ihrer Gesamtsituation wahrzunehmen und ihnen zu helfen“ (so eine Formulierung der Leopoldina).

Handlungsoptionen

Mit Blick auf die allgemeinen Handlungsoptionen, die die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bezug auf die Rechtsverhältnisse zu ihren Klientinnen und Klienten haben, ist aber festzuhalten:

dass kein rechtswirksamer vertraglicher Verzicht auf das Recht, Hilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen, möglich ist und dass das Recht des Patienten auf selbstbestimmtes Sterben deshalb in Krankenhaus-, Hospiz- oder Heimaufnahmeverträgen nicht wirksam beschränkt werden darf;

dass Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen (sowie von Hospizen) ein durch Art. 13 Abs. 1 GG stark geschütztes exklusives Hausrecht an ihrem Privatbereich zukommt, das auch einen Raum der Privatheit zum Zweck eines assistierten Suizids garantiert;

dass klauselförmige Hausverbote in Aufnahmeverträgen, etwa für Mitarbeitenden von Sterbehilfeorganisationen oder für „Anbieter von Suizidassistenz“ unwirksam sind, sowie Zugangsbehinderungen – oder gar Besuchsverbote – auch im Einzelfall nur unter außergewöhnlichen Bedingungen gerechtfertigt werden können.

Eine in der Trägerschaft Bethels stehende Einrichtung muss keine Klientinnen und Klienten aufnehmen, die ausschließlich oder primär Hilfe zum Suizid gerade durch Mitarbeitende der Einrichtung begehren. Im Fall von Personen, die nur grundsätzlich über einen bestehenden Wunsch nach Suizidassistenz berichten, oder auch von Personen, die primär Hilfe zum Suizid durch Dritte (oder einen geschützten Ort hierfür) begehren, können sowohl im Krankenhausbereich (Behandlungsverträge) als auch im Heimbereich (Verträge über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen) im Einzelfall Kontrahierungspflichten bestehen, die der Auswahlbefugnis entgegenstehen.

Die Möglichkeiten, einen bestehenden Vertrag zu kündigen, weil ein Patient, Bewohner oder Klient einen freiverantwortlichen Suizid beabsichtigt, sind insgesamt gering. Infolgedessen kann es deshalb in einzelnen Fällen dazu kommen, dass ein (durch außenstehende Dritte) assistierter Suizid in der Einrichtung geduldet werden muss.

Die Einrichtungen und Mitarbeitenden der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel haben keine Rechtspflicht, ihre Klientinnen und Klienten über ihr Recht auf Suizidassistenz (durch willige Dritte) aufzuklären.

Einige Handlungsempfehlungen an Bethel

Das Gutachten zeigt, dass ein ganz erheblicher ethischer – auch institutionenethischer – Handlungsspielraum besteht, in dem auch die angesichts des assistierten Suizids bestehenden diakonischen Zielkonflikte ausgetragen werden können. „Es gibt einen breiten Korridor des Richtigen und Vertretbaren.“ Der zu skizzierende Rechtsrahmen hindert die Institution Bethel und ihre Mitarbeitenden insbesondere in keiner Weise daran, bei ihren suizidwilligen Klientinnen und Klienten für das Leben zu werben, ihnen Lebensmut und Vertrauen zu vermitteln und sich mit ihrer menschlichen und seelsorgerischen Zuwendung Einsamkeit und Isolation entgegenzustellen.

Zu respektieren, dass Menschen in bestimmten Bereichen von Rechts wegen ihre eigenen, höchstpersönlichen Entscheidungen treffen dürfen, bedeutet nicht, die getroffenen Entscheidungen zu billigen. Das Recht verlangt auch im je konkreten Fall nicht, assistierten Suizid moralisch oder theologisch richtig zu finden; es verlangt nur, den Freiraum dafür, eine solche Entscheidung treffen zu können, zu respektieren, und die Realisierung einer solchen Entscheidung nicht zu verunmöglichen.

Normative Vorgaben für den Umgang mit assistiertem Suizid können auf ein Minimum reduziert werden. Nur der Grundsatz, dass die Institution Bethel ihren Klientinnen und Klienten den Zugang zu assistiertem Suizid durch Dritte, die bereit sind, hierzu rechtmäßige Hilfe zu leisten, nicht faktisch verunmöglichen darf, sollte festgehalten werden.

Soweit dieser äußere Rahmen rechtlicher Pflichten gewahrt wird, spricht nichts dagegen, auf der ethisch-praktischen Ebene auf regelhafte, verbindliche Festlegungen zu verzichten und in jenen Grenzfällen, in denen ein Verlangen nach assistiertem Suizid im Raum steht, auf Einzelfalllösungen auf der Grundlage eingeübter Praktiken, Werthaltungen und Tugenden entsprechend dem Selbstverständnis Bethels, auf eine gemeinsame diakonische Kultur, auf die Urteilskraft und das individuelle Gewissen der konkret Handelnden sowie auf eine nicht formalisierte Prozeduralisierung in Ethikkonsilen zu setzen.

Die Leitungen sollten ihren Mitarbeitenden jedoch klare prozedurale Leitlinien für den Umgang mit Suizidwünschen ihrer Klientinnen und Klienten kommunizieren, um die Handlungssicherheit auch in schwierigen Grenzfragen zu verbessern. Im Vordergrund steht das Ziel, Klarheit über interprofessionelle Zuständigkeiten herzustellen. Wichtig ist, dass diese Zuständigkeiten transparent und eindeutig definiert werden und dass die Mitarbeitenden, die unmittelbar mit Suizidwünschen konfrontiert werden, über benannte Ansprechpartnerinnen und –partner in ihrer Institution verfügen von denen sie annehmen können, dass der konkrete und je individuelle Fall dort ethisch (und rechtlich) angemessen und professionell behandelt wird („institutionelle Meldekette“). Gefordert ist, mit anderen Worten, „Prozessqualität“ im Umgang mit der Thematik.

Dank

Dr. Kurschus dankt Prof. Gutmann für das Gutachten. Sie weist darauf hin, dass es nicht nur durch die differenzierte rechtliche Reflexion, sondern auch durch die Begegnungen und Gespräche des Gutachters in den verschiedenen Handlungs- und Hilfefeldern Bethels Qualität gewonnen hat. Damit ist das Gutachten ein wichtiger Beitrag zur Diskussion und Kirche und Diakonie und darüber hinaus. In der Ethik-Kommission Bethel wird nun der prozedurale Leitfaden entwickelt, der sowohl den Geschäftsführungen und Leitungen ihre Verantwortung verdeutlicht wie auch den Mitarbeitenden in den verschiedenen Hilfefeldern Orientierung gibt. „Mir ist deutlich geworden, dass sich die Aufgaben in den einzelnen Handlungsfeldern sehr stark unterscheiden werden. Es geht ja nicht allein um Menschen, die mit schwerer Erkrankung in der letzten Lebensphase stehen. Es geht auch um Menschen mit Behinderung, die sich sorgen, ob sie in der gesellschaftlichen Debatte unter Druck geraten. Es geht um Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Und es geht um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Bethels, die für Menschen da sein wollen bis zuletzt – und dafür ihrerseits professionelle Unterstützung und Klärung brauchen. Besonders sehe ich auch die Seelsorge gefordert: Dass wir seelsorglich bis zuletzt an der Seite von Menschen bleiben, heißt nicht, dass wir damit Assistenz zum Suizid leisten. Das kann und wird nicht die Aufgabe in Bethel sein.“