Stellungnahme: „Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte“

Veröffentlichungsdatum der Stellungnahme: 12. September 2014

 

Die Autorin Barbara Degen kommt in ihrem Buch „Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte“ zu der Schlussfolgerung, dass in Bethel „überproportional viele NS-Opfer zu beklagen“ sind, , „kleine Kinder und behinderte Erwachsene, die getötet, vernachlässigt, verhungert, deportiert wurden und an Medizinexperimenten starben.“ (S. 307). Bereits vorab in der Einleitung spricht die Autorin von „fahrlässigen und bewußten Tötungen“ (S. 15) und von „eigener Unterstützung der ‚Euthanasie‘-Politik“ (S. 15). Sie formuliert Kapitelüberschriften wie „Die Zusammenarbeit mit der T 4“ (S. 57) oder „‘Opfern‘ für den Fortschritt – Die Toten der medizinischer Grenzüberschreitungen“ (S. 221) und bezeichnet Betheler Ärzte als „‘Euthanasie‘-Ärzte“ (S. 222)  

 

Seit Anfang der 1980er Jahre gibt es eine breit aufgestellte Forschung zu Bethel im Nationalsozialismus. Bislang wurde Bethel in der gesamten historischen Forschung noch niemals mit bewussten Tötungen im Rahmen der nationalsozialistischen Krankenmorde in Verbindung gebracht.

 

Wenn nun eine Autorin zu solchen Aussagen, wie hier dargelegt, kommt, sollte man meinen, sie habe überaus gründliche historische Forschungen unternommen. Schaut man sich jedoch das letzte Kapitel an, so diskreditiert sich die Autorin selbst, indem sie im Grunde genommen ihr gesamtes Buch infrage stellt. Unter der Überschrift „Der Forschungsbedarf“ benennt sie, was eigentlich ihr eigener Forschungsansatz war und ihre Aufgabe gewesen wäre, nämlich:

„1. Die Todeszahlen zumindest für die von Bodelschwinghschen Anstalten in Gadderbaum selbst sind vollständig im Stadtarchiv zu ermitteln.“ … (S. 344)

„2. Es fehlen bisher systematische Auswertungen der PatientInnenakten“ . (S. 345)

 

In wissenschaftlichen Publikationen ist es durchaus üblich, Forschungsdesiderate am Schluss zu benennen. Wie aber kann eine Autorin auf über 350 Seiten solch weitgehende und vernichtende Aussagen wie bewusste Tötungen, Hungerpolitik, Medizinexperimente oder gar Menschenversuche machen, wenn sie ja offenbar noch nicht einmal die Todeszahlen genau kennt und vor allem die Patientenakten gar nicht systematisch ausgewertet hat?

 

Nach diesem Schlusskapitel könnte man das Buch eigentlich ignorieren, gäbe es auf den gut 350 Seiten nicht zahlreiche Darstellungen, die  unbedingt einer Klarstellung bedürfen. Das geht von fragwürdigen Interpretationen historischer Quellen bis hin zu definitiv nachweisbaren Fehlern. Die gesamte Geschichte Bethels wird in Misskredit gebracht mit verleumderischen Behauptungen.

 

Das Buch kann nicht als eine seriöse historische Forschung betrachtet werden, das gilt für die Darstellung von Krankengeschichten aus den Einzelfallakten genauso wie für die Deutung von Dokumenten aus den Sachakten oder den Umgang mit bisherigen Forschungsergebnissen aus der Sekundärliteratur.

 

 

Die Autorin hat u.a. Einzelfallakten aus dem Hauptarchiv Bethel angesehen. Doch es ist unverständlich, warum die Autorin nur wenige Einzelfallakten für ihre weitreichenden inhaltlichen Aussagen herangezogen hat. Dabei ist die Quellenbasis für die Forschung sehr gut: Ca. 80 Prozent aller Einzelfallakten sind noch überliefert. Neben der geringen Nutzung von Akten irritiert die inhaltliche Präsentation der Ergebnisse aus dem Aktenstudium: An keiner einzigen Stelle geht die Autorin direkt darauf ein, worin denn bei der Medikation, der Therapie oder der Pflege die bewusste Tötung zu sehen ist. Noch dazu fördert eine Detailprüfung von ausgewählten Einzelfallakten durch das Hauptarchiv zutage, dass keine dieser Krankengeschichten fehlerfrei von der Autorin wiedergegeben ist.

 

In den Jahren 1939 bis 1945 wurden allein im Langzeitbereich der Anstalt Bethel mehr als 6.000 Patienten und Patientinnen verpflegt. Manche, etwa in den psychiatrischen Einrichtungen oder im Beobachtungskrankenhaus Mara, blieben nur wenige Wochen; andere, vor allem epilepsiekranke Männer, Frauen und Kinder, lebten über Jahre und Jahrzehnte in Bethel. Insgesamt gab es rund 2.500 Plätze für Menschen mit Epilepsie, Behinderungen und psychischen Erkrankungen.

 

Unter der Überschrift „Die toten Kinder haben Namen“ (S. 52) behauptet Degen die bewusste Tötung von Kindern mit Epilepsie und Behinderungen. Um diese massive Behauptung zu begründen, reichen der Autorin acht Fälle von verstorbenen Kindern aus. Bei zwei Kindern nennt sie noch nicht einmal das Todesdatum. Drei Kinder starben vor Oktober 1939 – also vor dem eigentlichen „Euthanasie“-Erlass –, zwei davon im August bzw. November 1938. Damit bleiben drei Fälle von Kindern, die in der eigentlichen „Euthanasie“phase verstorben sind.

 

Ähnlich setzt es sich fort. Im Kontext von Begriffen wie „Hungertote(n)“ (S. 216, 219), „Ernährungsexperimente“ oder „künstliche Nährstoffe“ (S. 219) nennt Degen 14 Fälle von Patienten und Patientinnen, die an Marasmus bzw. Siechtum oder Kräfteverfall verstorben sind. In einem Fall ist kein Todesdatum genannt. Fünf Patienten starben vor dem „Euthanasie-Erlass“.

 

Und für die überaus heikle These der „Medizinexperimente(n)“ (S. 221) bzw. der „Menschenversuche“ (S. 224) stützt sich die Autorin auf 17 Einzelfälle, neun davon stammen aus der Zeit vor der eigentlichen „Euthanasie“-Phase.

 

Lediglich einen einzigen Fall schildert die Autorin unter der Überschrift „Alternativen waren auch in Bethel möglich“ (S. 238-239).

 

An verschiedenen Stellen des Buches werden noch weitere Einzelfälle vorgestellt. Insgesamt bezieht sich die Autorin auf 61 Einzelfallakten, die sie im Hauptarchiv Bethel genutzt hat, hinzu kommen fünf Fälle, die sie für die Zwangssterilisationen im Hauptarchiv eingesehen hat. Wie Degen auf „ca. 100“ (S. 18) Einzelfallakten kommt ist unverständlich. In dem Buch schlägt sich das jedenfalls nicht nieder. Zu den Auswahlkriterien und der Methodik der Auswertung äußert sich die Autorin leider gar nicht. Auch die Tatsache, dass sie bei jeder (bis auf einer) der von ihr eingesehenen Einzelfallakten eine aktive Tötung sieht, ist erstaunlich. Das würde ja bedeuten, dass in Bethel alle Patienten aktiv getötet wurden und keiner mehr eines natürlichen Todes gestorben ist.

 

Hieran zeigt sich, wie unkorrekt die Darstellung ist und wie fragwürdig die daraus abgeleiteten Deutungen sind.

 

In der historischen Forschung geht man davon aus, dass es notwendig ist, mindestens 10 Prozent Einzelfallakten auszuwerten, um zu stichhaltigen Ergebnissen zu kommen. Somit wären rund 600 Akten das Minimum gewesen.

 

Die Forschung zu den nationalsozialistischen Krankenmorden ist inzwischen darüber hinaus, den offiziellen „Euthanasie“-Erlass von Oktober 1939, vordatiert auf den Kriegsbeginn, als den offiziellen ‚Beginn‘ von Krankenmorden zu sehen. Wenn man aber in einer Studie Patienten vorstellt, die vor Oktober 1939 vorgeblich bewusst getötet wurden, so muss man das auch exakt begründen und mit entsprechender Sekundärliteratur belegen. Aber die Autorin macht das gar nicht zum Thema.

 

Auffällig ist, dass Degen in keinem einzigen Fall benennt, worin denn die bewusste Tötung zu sehen sei. Es werden Krankengeschichten kurz vorgestellt und dabei aus dem Aktenzusammenhang gerissene Medikationen und Therapien zusammengefasst. Manchmal fehlen sogar genauere Angaben der Diagnose, auf den allgemeinen Gesundheitszustand des jeweiligen Patienten oder gar die Schwere und die Entwicklung der Erkrankung wird kaum eingegangen. Die Darstellungen wirken vollkommen willkürlich und man kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum nun ausgerechnet diese oder jene Medikation zum Tod geführt haben soll – und dann noch zu einem aktiv herbeigeführten Tod?

 

Konkrete Beispiele für fehlerhafte Recherche

 

Das Hauptarchiv Bethel hat 16 der dargestellten Einzelfälle anhand der Einzelfallakten im Detail überprüft und in allen Fällen eklatante Fehler gefunden. Und hier geht es nicht um Ermessensspielräume, die es bei historischen Quellen durchaus geben kann, sondern hier geht es um Fehler bei der Darstellung medizinischer und therapeutischer Sachverhalte.

 

Werner Wichter (Ps.) (S. 53)

Zu diesem Patienten schreibt die Autorin: „Über Medikamente gibt es keine Angaben.“ Das stimmt nicht. Seit September 1940 erhielt das Kind täglich 1 x 0,05 Luminal.

 

Hermann-Gisbert Geist (Ps.) (S. 54)

Hier schreibt die Autorin, der Junge habe ab Februar dreimal täglich 0,1 Luminal erhalten. Das stimmt nicht, es waren einmal täglich 0,1 Luminal. Dieser Unterschied ist bei dem Gewicht eines Kindes von 24 kg durchaus wichtig. Der Junge ist am 10.6.1939 gestorben, doch die Autorin zitiert, weiter aus einer Krankenakte, u.a. vom 10.6.1942: „er machte keine geistigen Fortschritte“. Die Autorin hat hier offenbar zwei Krankenakten vermischt.

 

Friederike Glück (Ps.) (S. 218)

Die Patientin starb nicht am 14.12.1940 sondern am 14.11.1940.

 

Else Anger (Ps.) (S. 221)

Beschrieben wird der Fall einer Patientin, die im März 1938 nach einem Suizidversuch starb. Die Patientin hatte Luminal gesammelt, um damit den Suizid zu begehen. Die Autorin schreibt wortwörtlich: „Die Kranke hatte vor ihrem Tod am 25.3.1938 Luminal erhalten, 10 mg am 21.3., 20 mg am 22.3. und ‚weniger als 5 mg‘ am 25.3.“ Mal davon abgesehen, dass dieses sehr geringe Luminaldosen wären, ist die Behauptung, die Patientin habe diese Mengen „erhalten“, vollkommen aus der Luft gegriffen. Aus dem Urin wurde die Konzentration mit Luminal gemessen, und aus diesen Messungen ergaben sich Luminalwerte je Liter, die allerdings auch nicht den o.g. Werten entsprechen, sondern ihnen nur ähneln.

Es liegt ein ausführlicher vierseitiger Bericht des Suizids vor: Am 21.3. wurde die Patientin „gegen 5 Uhr“ „in ihrem Bett halb ausgekleidet tief schlafend gefunden“. „Durch Katheter wurden gegen 7 Uhr etwa 2 Liter entleert, am andern Morgen etwa 1 Liter. In diesen beiden Harnmengen wurde in der Anstaltsapotheke (Apotheker Lägel) Barbitursäure in höheren als therapeutischen Dosen festgestellt, und zwar so viel, daß in der Harnportion vom 21. durch Umrechnung eine Menge von 10 mg % = 0,1 Luminal im Liter festgestellt wurde, in der Portion vom 22.3.  20 mg % = 0,2 Luminal im Liter. Der am 23.3. entnommene Harn enthielt weniger als 5 mg % barbitursäurehaltige Schlafmittel (Untersuchungsmethode und Umrechnung nach Oettl.)“

 

Fritz Werner (Ps.) (S. 224f)

Hier werden falsche Medikamente angegeben. Degen schreibt, der Patient hätte ab 1929 täglich 2 x 2,00 Brom bekommen. Aus der Patientenakte geht eindeutig hervor, dass der Patient 2 x 50 Bromlösung bekam. Ab 1942 schreibt die Autorin von einer Medikation 3 x 0,1 Luminal und 2 x 0,15 Brom bis zu seinem Tod. Der Patient erhielt aber täglich 2 x 0,15 Luminal und kein Brom. Schon seit 1931 hatte der Patient kein Brom mehr bekommen.

Das Zitat: „hinter der Regierung und hinter den Pfleglingen“, ist eine Zusammenfassung einer längeren Briefpassage und hätte nicht als Zitat gekennzeichnet werden dürfen. Darüber hinaus konstatiert die Autorin, in der Akte sei ein falsches Beerdigungsdatum angegeben. Das ist aber ein Lesefehler. Handschriftlich steht dort „Jan.“, daraus hat die Autorin dann Juni gelesen.

 

Lore Nordmeyer (Ps.) (S. 225)

Zu dieser Patientin schreibt die Autorin, der obduzierende Arzt hätte festgestellt: „kein sicherer Anhalt für Todesursache zu erbringen“. Daraufhin habe der behandelnde Arzt – entgegen dem Obduktionsbericht – als Todesursache eitrige Bronchitis und Marasmus festgelegt. Das oben genannte Zitat stammt jedoch aus dem Stationsbericht vom 14.1.1941, wurde also geschrieben, bevor eine Obduktion stattgefunden hat. Im Obduktionsbericht vom 15.1.1941 steht rein gar nichts von einer Todesursache. Bei der Obduktion wurde allerdings das festgestellt, was der behandelnde Arzt dann als Todesursache angegeben hat. Zudem wurde die Heraufsetzung der Medikation von 1 x 0,05 Luminal auf 1 x 0,1 Luminal nicht vorgenommen, als die Patientin 40 kg wog, sondern als sie noch 50,5 kg wog und damit nahezu ihr Höchstgewicht hatte (das betrug 52,4 kg im Jahr 1933).

 

Hanna Simsen (Pseudonym) (S. 225f)

Bei der Darstellung dieses Falls wird besonders deutlich, wie mit vollkommen aus dem Aktenzusammenhang gerissenen Zitaten eine Tendenz erzeugt werden kann. Die Autorin schreibt über die Patientin: „Kurz vor ihrem Tod wurde sie mit Pant-Scopolamin ruhiggestellt“. In der Patientenakte lautet das aber etwas anders: „Wiederholt nur mit Pant-Scopolamin ruhig zu stellen.“ Die Patientin war also offenbar bereits an dieses Medikament gewöhnt. Auch die Angst der Patientin vor „Gift“, die die Autorin konstatiert, hat in der Krankenakte eine andere Nuance. Dort heißt es: „Nimmt fast nichts zu sich. Weist auch Wasser als ‚Gift‘ zurück.“

Die Aussage der Autorin, die Patientin habe einen Tag vor ihrem Tod Kochsalz-Infusionen bekommen stimmt zwar, aber das Krankenblatt vom August 1943 zeigt, dass die Patientin regelmäßig Kochsalz-Transfusionen erhalten hat, neben Traubenzucker-Transfusionen – was in dem Buch jedoch nicht genannt wird. Offenbar hat man auf Kochsalzlösung und Traubenzuckerlösung zurückgegriffen, weil die Nahrungsaufnahme der Patientin zeitweise erschwert war.

Diese Patientin ist an Pneumonie verstorben, und sie wird auf S. 190 für die Gefährlichkeit von Elektroschockmethoden als Beispiel genannt. Die Autorin erwähnt nicht, dass die letzte (fünfte) Elektroschockbehandlung am 30.7.1943 stattgefunden hatte, die Patientin aber erst am 1.9.1943 verstarb.

 

Peter Lehre (Ps.) (S. 226)

Die Autorin zitiert aus einem Brief des behandelnden Arztes ein Präparat, dass dieser als „unwirtschaftlich“ einstufte. Leider zitiert sie ein falsches Präparat. Es waren nicht „Luminaltabletten“ sondern „Luminaletten“, ein Präparat von einer anderen Pharmafirma, das niedriger dosiert und teurer war.

Der Satz „Der Patient magerte 1942 gegenüber 1932 um 33 kg auf 50 kg ab“, ist nicht korrekt. Anfang des Jahres 1940 wog er noch 72,5 kg. Er hatte ohnehin starke Gewichtsschwankungen, wog auch schon mal 68 kg (zweites Quartal 1938), dann wieder 76 kg (viertes Quartal 1939). Seit Anfang des Jahres 1940 verlor er stetig an Gewicht und magerte dann innerhalb der nächsten zweieinhalb Jahre auf 50 kg ab.

 

Hanna Trink (Ps.) (S. 227)

Sie erhält nicht 5 x täglich Luminal, sondern regelmäßig 1 x 0,05 oder 0,1 Luminal täglich. Die in der Einzelfallakte genannte „5“ ist eine „5hochX“. Ein X über einer Anfallszahl steht grundsätzlich für schwere Anfälle. So ist es am 25.10.1930 in der Krankenakte geschrieben. Die Autorin hat das hochgestellte „X“ falsch gelesen. 1938 wurde der Patientin nicht etwa „eine Mischung aus Coffein und Beruhigungsmittel verabreicht“. Es verhielt sich so, dass ab dem 15.4.1938 das Luminal in flüssiger Form verabreicht wurde. Die Rezeptur dieser Mischung, in der sich u.a. auch Coffein befand, ist in der Krankenakte genau aufgelistet. Das Zitat aus der Akte, die Patientin „sei immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht“, ist eine verkürzte und verzerrende Darstellung. Der gesamte Passage in der Patientenakte lautet: „In guten Tagen sehr vergnüglich, spielt gern Klavier. Immer auf ihren Vorteil bedacht. Trinkt gern Bohnenkaffee.“

 

Helmut Wiesner (Ps.) (S. 227)

Der von der Autorin genannte Brief von Welck an Villinger ist ein Brief von Villinger an die Ehefrau des Patienten. Die angegebenen Medikamentengaben waren allerdings nicht an den Weihnachtstagen, sondern im September und die Medikation verhielt sich anders, als die Autorin schreibt. Am 25.9. bekam der Patient tatsächlich 3 x 20 Tropfen Pantopon (nicht wie zitiert „Pantopan“), das er allerdings regelmäßig erhielt. Am 26.9. wurde eine Pleurapunktion durchgeführt, dabei wurden zur Betäubung 4 ccm Novocain verwendet. Ab dem 29.9. bekam er für drei Tage 3 x 40 Einheiten Insulin.

Das Zitat „‘1 Spritze Luminal jeweils laufend nach 2 stündiger Pause‘“ ist nicht korrekt wiedergegeben. In der Krankenakte steht: „Nach 4. Anf. 1 Spritze Luminal. Darauf 2 stündige Pause“ eine weitere Spritze ist gar nicht genannt. Der Patient wird danach in das Krankenhaus Nebo verlegt. Von Coffeeinal ist in der Patientenakte keine Rede.

 

Erika Tellner (Ps.) (S. 228)

Das Sterbedatum ist falsch angegeben. Die Patientin starb am 18.6.1939. Eine Sterilisierung, wie sie die Autorin nennt, ist in der Akte nicht nachweisbar. Und die Patientin wog im Mai 1939, kurz vor ihrem Tod, auch nicht 23 kg, sondern 27 kg.

 

Alma Heer (Ps.) (S. 228)

Für diese Patientin ist eine falsche Gewichtsangabe gemacht, sie wog zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht 58 kg sondern 65,5 kg.

 

Willi Passau (Ps.) (S. 228)

„Er hatte 5 Luminaltabletten a 0,1 eingenommen.“, schreibt die Autorin.

Das kann man so nicht aus der Akte entnehmen. Einige Tage vor dem Suizid hatte ein Diakon in den „Sachen“ des Patienten  „5 Luminaltablette a 0,1“ vorgefunden. Im Ärztlichen Bericht vom 12.2.1941 heißt es: „Es besteht die Möglichkeit, daß sich auf unbekannte Weise Passau [Ps.] Luminal oder ein anderes Betäubungsmittel verschafft hat und dies Mittel in selbstmörderischer Absicht eingenommen hat.“

 

Hans Heinrich (Ps.) (S. 229)

Über diesen Patienten schreibt die Autorin: „Seit seiner Aufnahme verliert er über 20 kg an Gewicht“. Leider erwähnt die Autorin nicht, dass der Patient bei seiner Aufnahme 1925 bei einer Körpergröße von 1,66 m ganze 98 kg gewogen hat. In der Patientenakte wurde vermerkt: „sehr starke Fettentwicklung in der Bauchmuskulatur“. Ende 1938 wog der Patient dann 61 kg. Er hatte also innerhalb von 13 Jahren 30 kg und nicht 20 kg abgenommen. Aus religiösen Gründen nahm er zeitweise keine Nahrung zu sich. Worüber mit dem Patienten auch gesprochen wurde. Versuche zur Gewichtserhöhung, wie sie die Autorin fordert, waren bei einem Gewicht von zuletzt 61 kg auch nicht notwendig.

Die Medikamente, die die Autorin nennt, wurden keinesfalls zur selben Zeit verabreicht. Der Patient wurde seit 1926 regelmäßig mit Brom und Luminal behandelt. Von September 1926 bis Oktober 1926 erhält er kurzfristig Amylen und Cardiazol, weil er wegen gehäufter schwerer Anfälle im Krankenhaus Nebo behandelt wird. Morphium und Pantopon werden nach einer Blinddarmoperation mit anschließender Beinthrombose im Februar 1931 einmalig gegeben. Digitalis erhält der Patient an einem Tag (24.3.1933) 3 x 15 Tropfen nach einer Nacht mit „9 Schwindeln und 5 Anfällen“.

 

Emma Niemand (Ps.) (S. 229f)

Die Patientin verstarb am 28.10.1941, nicht, wie die Autorin schreibt, am 31.10. Dann führt die Autorin ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Dortmund aus dem Jahr 1945 an. Mal davon abgesehen, dass es sich um die Oberstaatsanwaltschaft handelte, geht aus der Akte noch nicht einmal ansatzweise hervor, worum es in dem Ermittlungsverfahren gegangen sein könnte. Bethel antwortete auch nicht am 28.8.1941 , wie Degen behauptet. Der Sachverhalt sah vielmehr folgendermaßen aus: Am 28.8.1945 schrieb die Oberstaatsanwaltschaft Dortmund an Bethel im Telegrammstil: „Mitteilung über den Stand.“ Bethel schrieb am 8. September 1945 zurück: „Emma Niemand [Pseudonym] aus Dortmund-[…], […]strasse 7[…], geboren am 1.6.1924, ist bereits am 28. Oktober 1941 in der hiesigen Anstalt verstorben.“

Die Autorin schreibt: „Bethel – zur Stellungnahme aufgefordert – erklärte am 28.8.1945, der Tod sei vor 1940 eingetreten, deshalb könne es sich nicht um eine Tötung handeln.“ Dieser Satz ist frei erfunden und hat nichts mit der Aktenlage zu tun. Nirgendwo ist dort von „Tötung“ die Rede.

 

Welche Auswüchse falsche Aktenrecherche haben kann, zeigt sich auch im Fall der Elisabeth Anna Ritter (Ps.), der in einem eigenen Kapitel auf vier Seiten geschildert wird (S. 49 ff). Es ist außerordentlich bedenklich, dass in einem Buch so viele vollkommen falsche Spekulationen zur Behandlung und zum Tod eines Kindes auftauchen, obwohl doch nur ein Arzt damals einen kleinen Fehler bei der Datierung eines Briefentwurfs gemacht hat.

Die Ausführungen der Autorin ranken sich um diesen Briefentwurf des behandelnden Arztes an die Eltern, der auf den 8. März 1939 datiert ist, und von der Scharlacherkrankung des Kindes berichtet. Leider hat die Autorin den Aktenzusammenhang der Patientenakte nicht genau wahrgenommen, sonst hätte ihr auffallen müssen, dass dort nur fälschlicherweise „März“ steht, es hätte „April“ heißen müssen. Der Briefentwurf ist im Aktenzusammenhang auch im April einsortiert. Ebenfalls weisen alle weiteren medizinischen Berichte in der Akte (der Stationsbericht, der Abschlussbericht an den vorher behandelnden Arzt am Wohnort der Patientin, etc.) eindeutig daraufhin, dass die Scharlacherkrankung, um die es hier geht, am 7. April auftrat.

Allerdings zeigt sich auch bei den weiteren Ausführungen der Autorin, dass sie in Fragen der Aktenführung nicht sicher ist. Sie beanstandet, dass in der Patientenakte aus dem Langzeitbereich Mara die Medikation und weitere Behandlung des Kindes vor dem Tod fehlt. Das Kind wurde nach Diagnose der Scharlacherkrankung sofort in das Infektionskrankenhaus Samaria verlegt – ein Haus der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta. Dort gab es eine eigene Aktenführung, es war ja ein Krankenhaus eines anderen Trägers, nämlich der Anstalt Sarepta. Es kann in der Patientenakte des Hauses Mara, Langzeitbereich der Anstalt Bethel, also gar keine Eintragungen aus Samaria gegeben haben.

 

 

Eine Besonderheit ist das Kapitel „Die Zusammenarbeit mit der T4“ (S. 57 ff). Dort geht es um 25 Kinder und Jugendliche, die im Herbst 1941 aus der Anstalt Rickling (Schleswig-Holstein) nach Bethel verlegt wurden. Dazu gibt es bereits detaillierte Forschungen von einem Historiker (und Intensivpfleger, also medizinisch vorgebildet), der auch zu der Anstalt Rickling im Nationalsozialismus promoviert (Heesch 2007). Von den 25 Kindern und Jugendlichen sind neun während der Kriegszeit in Bethel verstorben. Heesch schließt jede bewusste Tötung aus und kommt nach detailgenauer Auswertung der Einzelfallakten zu dem Ergebnis einer ausgesprochen guten Pflege und einem hohen medizinisch-therapeutischen Standard in Bethel. Heesch geht aber auch auf die schwierige Ernährungslage in Bethel und die Folgen für das Sterben der Patientinnen im Einzelnen ein.

 

Leider setzt sich Degen gar nicht mit diesen Forschungsergebnissen auseinander, sondern behauptet pauschal: „Bei diesen Kindern und Jugendlichen gehe ich von bewußten Tötungen in Kooperation mit der T4 aus“ (S. 59).

 

Es handelte sich aber gar nicht um eine Aktion der T4 – schon die Kapitelüberschrift ist also falsch –, sondern um eine Verlegung im Rahmen der „Aktion Brandt“ (Verlegungen zur Schaffung von Ausweichkrankenhäusern). Dass 15 Kinder und nicht neun während der Kriegszeit verstarben, behauptet die Autorin, ohne die Sterbedaten zu nennen. Dann stellt sie zehn Einzelfälle von Patienten vor (fünf sind während der Kriegszeit verstorben; drei in der unmittelbaren Nachkriegszeit; zwei weitere 1950 und 1954). Auch hier wieder: vollkommen aus dem Aktenzusammenhang gerissene Zitate zu Medikationen und Therapien; an keiner Stelle wird aufgezeigt, worin denn nun die bewusste Tötung zu sehen ist.

 

 

Die Autorin Barbara Degen hat neben den Einzelfallakten auch Sachakten im Hauptarchiv Bethel, im Stadtarchiv Bielefeld, im Landesarchiv NRW-Abteilung Detmold, im LWL-Archiv und im Bundesarchiv eingesehen. Schaut man sich jedoch den Umgang mit den Quellen des Hauptarchivs einmal genau an – und nur diese wurden überprüft –, so treten allein hier Darstellungen zutage, die höchst fragwürdig bis falsch und zum Teil rufschädigend sind.

 

Da ziehen sich kleinere Ungenauigkeiten durch das Buch, wie etwa auf S. 141: Es wird ein Brief Bodelschwinghs an Dr. Heidenhain angegeben. Diesen Brief gibt es nicht. Das von der Autorin genannte Zitat stammt aus einem Brief Bodelschwinghs an Villinger – gesprochen wird darin über Dr. Heidenhain.

 

Ein Fall  für grobe Ungenauigkeit ist jedoch die Schilderung eines Vorgangs aus dem Jahr 1964 (S. 67). In diesem Kapitel benennt die Autorin Quellen, die zeigen sollen, dass in Bethel „behinderte Kinder auch außerhalb des Kinderkrankenhauses bewusst getötet“ (S. 66) wurden.

1964 hatte sich ein Oberregierungsrat a.D. Grünberg gemeldet, der mitteilte, bei einer nicht mehr genau zu datierenden Besprechung mit Bodelschwingh habe dieser gesagt: „‘Ich bin bereit, das Treibholz auf dem Fluße Eden preiszugeben‘.“

Bethel setzte sich schon damals kritisch mit dieser mündlichen Überlieferung auseinander und nannte durchaus überzeugende Argumente, gegen die Authentizität dieser Aussage. Diesen Teil der Quellenüberlieferung lässt die Autorin allerdings komplett weg.

So findet sich in der Quelle das Argument, Bodelschwingh hätte ja dann ein falsches Bibelzitat benutzt: „Die bildhafte Rede vom Fluß Eden hat keine Grundlage in der Bibel, die nur vom Garten Eden spricht, und den 4 Strömen, die dazugehören.“ Außerdem steht dort: „Pastor von Bodelschwingh hat alle Fragen, die mit der Euthanasie zusammenhingen, immer sehr behutsam und zurückhaltend selbst im engsten Kreise seiner Mitarbeiter behandelt, so daß es seiner sonst geübten Verhaltensweise völlig widerspricht, wenn er jetzt in einem Gespräch mit zwei Männern der Regierung, von denen er meines Wissens nur Herrn Gersbach, aber nicht Herrn Grünberg kannte, solch eine weittragende Äußerung getan hätte.“ Zudem, so die Akte, hielt man es für gänzlich unmöglich, dass Bodelschwingh die Kinder aus Patmos – um die ging es hier – als „Treibholz“ bezeichnet hätte.

Mit viel gutem Willen könnte man das Vorgehen der Autorin noch als selektive Auswahl einer Quelle sehen.

 

Anders ist es mit der Auswertung einer Quelle aus dem Jahr 1939 (S. 208). Hier ist die Interpretation zumindest als fragwürdig zu bezeichnen. Es handelt sich um einen Vertrag mit dem Kreisernährungsamt Bielefeld, in dem es um die Selbstversorgung in der Anstalt Bethel geht. In dem Vertrag heißt es: „Für die Anstaltsinsassen gilt als die verbrauchbare Höchstmenge jeweils die für die Zivilbevölkerung in Frage kommende Menge.“ Die Autorin nennt diesen Vertrag fortan „Versorgungsvertrag“ und liest aus diesem Satz eine „gleiche Ernährung von ‚Anstaltsinsassen und Zivilbevölkerung‘“.

Von einer tatsächlich gleichen Ernährung spricht allerdings der Vertragstext keineswegs. Es geht lediglich darum, dass die Höchstmenge, die für die „Anstaltsinsassen“ verbraucht werden darf, die Menge, die für die Zivilbevölkerung gilt, nicht überschreiten darf.

Nun wäre diese Interpretation zu verschmerzen, wenn die Autorin nicht im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen wiederholt auf diesen vorgeblichen „Versorgungsvertrag“ zurückkäme (z.B. S. 216) und Bethel vorwirft, man habe die Patienten nicht genau wie die Zivilbevölkerung ernährt, schließlich gäbe es doch den „Versorgungsvertrag“ von 1939. Dass es Vorgaben der Regierung für die Ernährung in Anstalten gab, dass sich im Verlauf des Krieges die Ernährungslage auch in Bethel verschlechterte, das wird dabei nicht in Betracht gezogen. 

 

Als definitiv falsche Darstellung einer Quelle müssen die Ausführungen der Autorin auf S. 220 bezeichnet werden: „In Bethel wurde möglicherweise auch Gelatine als Mittel gegen Hungergefühle eingesetzt. Man benötigte Gelatine, ein Stoff mit dem Hungergefühle gedämpft werden können, ‚für diätische und therapeutische Zwecke‘“. Dieser letzte Part ist aus einem Schreiben Bethels zitiert. Die Aussage, dass Gelatine ein Stoff zur Bekämpfung von Hungergefühlen war, wird nicht durch Literatur belegt. Der Satz „für diätische und therapeutische Zwecke“ geht in der Quelle weiter. Dort heißt es: „sowie für Laborzwecke und zur Herstellung bzw. Haltbarmachung von Fleischspeisen.“ Da bekommt die Bestellung der Gelatine eine vollkommen andere Bedeutung. Zudem spricht die Autorin von „Großbestellung“, die Bethel 1940 tätigte. In der Quelle heißt es aber: „Die von uns oben angegebene Menge von 150 kg beträgt ca. die Hälfte des Verbrauches in normalen Zeiten.“ Gelatine kann also nicht in der Kriegszeit gegen Hungergefühle eingesetzt worden sein, wenn weit weniger bestellt wurde, als schon vor dem Krieg verbraucht wurde.

 

Rufschädigung ist auf jeden Fall die fehlerhafte Wiedergabe eines Zitats des Arztes Dr. Schorsch aus dem Jahr 1961 (S. 286f) zur „Euthanasie“. In dem Absatz zuvor wurde das Thema „Menschenversuche“ bei den Nürnberger Prozessen angesprochen. Die Juristin Barbara Degen schreibt nun: „Der leitende Arzt Gerhard Schorsch hatte 1961 zu der Haltung der Betheler Ärzte erklärt: ‚Ein Teil der Ärzte bejahte die Maßnahmen und entschloß sich zu aktivem Mitwirken. Ein aktiver Widerstand um jeden Preis hätte in einem totalitären Staat keinerlei Aussicht auf Erfolg‘.“

Aus dem Dokument geht eindeutig hervor, dass sich Schorsch hier zur Ärzteschaft im Nationalsozialismus im Allgemeinen äußerte und keineswegs zu den Betheler Ärzten. Erst in einem späteren Absatz seiner Ausführungen geht Schorsch auf Bethel ein. Zuvor war von Bethel gar nicht die Rede. „Wir in Bethel lehnten die Euthanasie-Maßnahmen natürlich ab.“, schreibt er dann. Mit dem einen Wort – „Betheler“ –, das die Autorin unrechtmäßig bei den „Ärzten“ ergänzt hat, bekommt der Inhalt eine vollkommen andere und damit falsche Aussage.

 

Dass die Autorin medizinische Behandlungen falsch darstellt, hat sich bereits bei den Einzelfallakten gezeigt. Falsch dargestellt ist auch die angebliche Anwendung einer damals gängigen medizinischen Methode, nämlich der künstlichen Fiebererzeugung. Auch bei dieser Art des Umgangs mit Quellen muss man von Rufschädigung sprechen.

Degen schreibt (S. 37): „Der spätere leitende Arzt Gerhard Schorsch erklärte 1947, man habe durch Fiebererzeugung und Tuberkulin- und Typhusvaccine-Impfungen die ‚besten Heilerfolge‘ erzielt.“ Degen führt diese medizinische Methode im Zusammenhang mit der Behandlung von Kindern an! In dem Vortragsmanuskript von Schorsch aus dem Jahr 1947, das hier als Quelle zugrunde liegt, geht es um die Behandlung psychisch kranker Erwachsener. Und nur dazu diente diese Methode: Sie wurde bei psychischen Erkrankungen und bei Erwachsenen angewandt. Es ging nicht um Epilepsieerkrankungen und schon gar nicht um Kinder mit Epilepsie. Im Zusammenhang mit Tuberkuloseimpfungen, die die Autorin auch noch nennt, kommt sie dann zu dem Schluss: Damit spricht Einiges dafür, dass hier zwei zentrale Ursachen für die erhöhten Todeszahlen bei den Säuglingen und Kleinkindern liegen.“ (S. 37)

Noch an zwei weiteren Stellen des Buches benennt Degen die Anwendung dieser Methode bei Kindern mit Epilepsie. Sie schreibt:  „Es ist überraschend, dass Schorsch hier so offen über die ‚künstliche Fiebererzeugung durch Gifte und Infektionserreger‘ spricht, die in den Akten, insbesondere der Rickling-Mädchen und der Patmos-Kinder nicht benannt wurden, sich aber in den Folgen widerspiegeln.“ (S. 231) Die Autorin sagt, dass etwas in den Akten nicht  benannt ist, sieht aber, dass sich die „Folgen widerspiegeln“. Welche Folgen die Autorin meint, bleibt vollkommen offen. Und erstaunlich ist auch, dass eine Nicht-Medizinerin in der Lage ist, Folgen einer nicht benannten Therapie anhand von historischen Akten beurteilen zu können. Damit hätte wahrscheinlich selbst ein Mediziner Schwierigkeiten.

Und weiter: Im Zusammenhang mit der Vorstellung von „Lehrmeinungen“ Betheler Ärzte und ihrem christlichen Selbstverständnis schreibt die Autorin (S. 243): „Wenn sogar die künstliche Fiebererzeugung mit Tuberkelbazillen und Infektionskrankheiten bei schwachen, abgemagerten Kindern als besonders ‚erfolgreich‘ angesehen wird“. Die Autorin bezieht sich auf das o.g. Zitat von Schorsch von 1947, der aber niemals von Kindern gesprochen hat. Schon gar nicht von „schwachen, abgemagerten“. Davon abgesehen kann die Autorin die tatsächliche Anwendung dieser Methode im Psychiatriebereich mit keiner der Einzelfallakten belegen.

 

 

Benutzung von Sekundärliteratur

 

Etwa die Hälfte des Buches basiert auf der bisherigen Forschungsliteratur zu Bethel im Nationalsozialismus. Das wird aufgrund der Anmerkungspraxis der Autorin leider nicht immer deutlich. Es wird nur selten belegt, woher die Autorin ihre Arbeitsergebnisse hat. Vielleicht möchte sie den Eindruck erwecken, noch nie habe jemand dazu geforscht …

 

Die Aussagen in den Kapiteln 4.2.1 (S. 114 ff) und 4.2.2 (S. 130 ff) zu den Zwangsterilisationen sind bereits bei Hochmuth (1997) und Vossen (2001) nachzulesen. Bei einem Absatz zu Dr. Bernhard Mosberg fehlt jeder Hinweis, dass dazu bereits geforscht wurde (Schmuhl 1998). Auch bei den Kapiteln zu Villinger (S. 138-149), zu Schorsch (S. 149-152) oder bei den Ausführungen zu Boeckh (S. 241) fehlen die Belege zu den in der Sekundärliteratur bereits vorhandenen Ergebnissen (Schmuhl 1998 und 2002). Zu Braune (S. 289f) und zu Wilm (S. 290f) fehlt ebenfalls die neuste Literatur (zu Braune: Cantow/Stockhecke 2011 und Cantow 2012; zu Wilm: Hey/Rickling 2001).

 

Dass es zum Lazarett in Bethel (S. 300f) bereits Literatur gibt, wird nicht genannt (Stockhecke 2005). Über den Umgang mit der Bethel-Legende (S. 305f) – den die Autorin hier wieder aufwärmt – ist die Forschung weit hinaus, und zwar seit 1997 (Hochmuth 1997; Kühl 1997). Auch die zweifelhafte Haltung von Friedrich v. Bodelschwingh III (S. 326f) findet in der Literatur bereits kritische Erwähnung (Hochmuth 1997). In dem Kapitel in dem es um die NS-Täter geht, die in Bethel aufgenommen wurden (S. 337-340), wird auch die neuste Literatur nicht hinreichend genannt (zu Himmler: Wittler 2010; zu Hasselbach: Schmuhl 2001).

 

Die Feststellung, „1933 begrüßte ein nicht unerheblicher Teil der Betheler Mitarbeiter und Patienten den Umschwung.“ (S. 109) zu machen, ohne auf die detaillierten Forschungen von Benad (2002) zu verweisen, grenzt schon an grobe Missachtung der bisherigen Forschung.

 

Bei den Themen zu Kinderfachabteilungen und zur „Kindereuthanasie“ (S. 43) sowie zum Stuttgarter Schuldbekenntnis (S. 304) wird Wikipedia als Quelle angegeben. Ausgerechnet Themen, zu denen es eine Fülle von Forschungsliteratur und Standardwerken gibt.

 

 

Überprüfbarkeit von Ergebnissen

 

Leider zieht es sich durch das gesamte Buch, dass die Angaben von Primär- und Sekundärquellen an entscheidenden Stellen fehlen. Das ist vor allem dann sehr bedenklich, wenn es sich um tiefgreifende inhaltliche Aussagen handelt. Der Leser muss ratlos zurückbleiben und sich fragen, woher denn diese Erkenntnisse stammen? Und der weiteren Forschung wird keine Möglichkeit gegeben die Ergebnisse anhand von Akten oder anhand der Literatur nochmal nachvollziehen oder vertiefen zu können.

 

Hierzu einige Beispiele:

 

Die Autorin schreibt, dass die Kinder in Bethel „insgesamt höchstens 5-10% der Betreuten und Kranken“ (S. 24  und S. 64) ausmachte. Dazu gibt es keine belegte Berechnung oder ein Hinweis auf die Sekundärliteratur.

 

Zu schreiben: „Ich gehe deshalb davon aus, dass Bethel genau zu dieser Ersatznahrung geforscht hat.“ (S. 36), ohne das zu belegen, grenzt an Verleumdung.  

 

Ausführlich wird auf S. 132 ein Gedanke ausgeführt, bei dem es um Folgendes geht: „Während der Sterilisationsphase bildeten sich in Bethel Verhaltensmuster heraus, die in der späteren ‚Euthanasie‘-Phase tödlich werden konnten.“ Auch solch eine inhaltsschwere Aussage kann man nicht ohne Beleg stehen lassen.

 

„1938/39 war Villinger der maßgebliche Mann für den ‚medizinischen Fortschritt‘ in Bethel. Wie kaum ein anderer beeinflusste er die Anpassung der Anstalt an die nationalsozialistischen Vorgaben und die ‚neuesten‘, für die PatientInnen risikoreichen und gefährlichen medizinischen Erkenntnisse (Insulin-, Cardiazol- und Elektroschockbehandlung, Ruhigstellung durch Narkotika, Impfungen, Fieberkuren u.a.)“ (S. 145). Auch hier findet sich keine einzige Anmerkung. Im Übrigen ist nichts dagegen einzuwenden, dass eine Anstalt – nach den Möglichkeiten der damaligen Zeit – die neusten medizinischen Standards einführte. Wie hoch die Risiken und Gefahren dieser Methoden denn nun wirklich waren, wird von der Autorin an keiner Stelle nachgewiesen.

 

Auf der S. 156 finden sich interessante Details zur Finanzierung Bethels – aber leider ohne Quellenangaben. Es wäre höchst aufschlussreich, dieses noch mal nachlesen und vertiefen zu können

 

„Bethel, insbesondere Bodelschwingh, betrieb eine ‚Geheimpolitik‘, die der von der Anstalt kritisierten Geheimpolitik der NS-Machthaber seltsam ähnelte.“, wird auf der S. 241 behauptet. Was soll damit angedeutet werden? Zum einen sind Vergleiche mit dem Nationalsozialismus  immer schwierig, zum anderen ist solch ein weitreichender Vorwurf nun wirklich nicht ohne Quellenbeleg möglich.

 

In einem kurzen Absatz geht es um die Ärztin Frau Dr. Runge (S. 252): „Aber auch sie bewegten sich eher im Schatten ihrer vorgesetzten Ärzte, zumindesten sieht es nach den Quellen so aus.“ Welche Quellen sind das denn? Es wäre schön, wenn die Autorin diese genannt hätte.

 

Der Satz „dass viele Schwestern sich von dem nationalsozialistischen Gedanken leiten ließen“ (S. 272), ist ein Affront gegen die Diakonissenschaft und kann nicht ohne Beleg stehen. 

 

Auf den S. 272-273  findet sich ein längerer Absatz zur „Ausmerzung“, zur „GEKRAT“, zur „Täter- und Mittäterschaft“ – alles weitreichende inhaltliche Aussagen ohne eine einzige Anmerkung.

 

Im Kontext der von den Provinzialverbänden angeordneten Verlegungen von Patienten aus Bethel in Provinzialheilanstalten (S. 281), kommt die Autorin zu dem Schluss: „Ich gehe nach einigen Stichproben davon aus, dass Bethel diese Kranken – bei festgelegtem ’Zahlenkontingent‘ wie ich vermute – selbst auswählen konnte und diejenigen auswählte, die weder ‚gemeinschafts- noch arbeitsfähig‘ waren, möglicherweise war das aber auch eine staatliche Vorgabe .“ Nirgendwo ein Beleg dazu. Damit muss das als reine Spekulation gelten. Und auch die angegebenen Stichproben finden sich nirgendwo ausgeführt.

 

„Die Verschleierungspolitik Bethels erschwert heute ein realistisches Bild über die Gesamtein- und –ausgaben.“, heißt es auf S. 285. Bevor man einer Einrichtung „Verschleierungspolitik“ vorwirft, muss man aber alle Quellen eingehend geprüft haben. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass überhaupt Quellen dazu geprüft wurden – etwa die Jahresrechnungen.

 

„Vor allem den Hausmüttern, einigen Hausvätern, den Diakonissen und den vielen sich sorgenden Angehörigen ist es zu verdanken, dass die Todeszahlen in der Anstalt nicht noch erheblich höher ausfielen.“ (S. 294), lautet eine ebenfalls inhaltsschwere These. In dieser Pauschalität ist solch eine Aussage ohne Quellenhinweise haltlos.

 

Auf der S. 312 schreibt Degen: Die leitenden Bethel-Ärzte wollten in der Regel ‚schnelle Lösungen‘, die Senkung der Krankenhausaufenthalte mit der entsprechenden Kostensenkung und schnell wirksame Medikamente. Chronische Krankheiten brachten sie an die Grenzen ihrer Geduld und Toleranz.“

Das ist an keiner einzigen Stelle belegt. Die Patienten im Betheler Langzeitbereich, gerade im Epilepsiebereich, waren alle chronisch krank. Wieso sollte den Ärzten da die Geduld fehlen? Im Langzeitbereich ging es auch keineswegs um einen möglichst kurzen Aufenthalt. Und wenn zur damaligen Zeit jemand mit einer Epilepsie nach Bethel kam, so war das in zahlreichen Fällen auf einen Langzeitaufenthalt ausgerichtet. Zudem ist es Ärzten nicht vorzuwerfen, an wirksamen Medikamenten interessiert zu sein.

 

Bei den genannten Beispielen handelt es sich nur um eine Auswahl. Es gibt weitere Stellen, wo sich ganze Textpassagen ohne Anmerkungen finden.

 

 

Die Autorin verfasst in diesem Buch Sätze, die unlogisch sind. Auch der Kontext der Seiten, auf dem diese Passagen stehen, hilft beim Verständnis nicht weiter.

 

Auf S. 311 schreibt Degen: Neben der gedanklichen und beruflichen Einbindung in das, was in der NS-Zeit ‚üblicherweise‘ gedacht und getan wurde, führte die immer wieder betonte und rigorose Trennung zwischen ‚normal‘ und ‚unnormal‘ zu der Haltung, dass Medizinexperimente und vorzeitiger geplanter Tod ‚normal‘ seien könnten. Mit der Verwischung der Grenzen zwischen ‚Sterbehilfe‘, Mitleid und bewusste Tötung war eine Handlungsoption verbunden, die das Gewissen weitgehend ausschaltete.“

 

Und auf S. 315 heißt es: „Das Nein zur ‚Euthanasie‘ spaltete sich von politischen Einzelentscheidungen ab und verschob sich in wichtigen Fragen von einem theologischen Bekenntnis zu gegenteiligen Handlungsanleitungen.“

 

Bei zwei weiteren Textpassagen fragt man sich ebenfalls nach der Logik der Sätze, und diese sind auch noch so formuliert, dass sich die Autorin unglaubwürdig macht.

 

Ein Beispiel wurde bereits genannt und wird hier noch einmal aufgeführt: „Es ist überraschend, dass Schorsch hier so offen über die ‚künstliche Fiebererzeugung durch Gifte und Infektionserreger‘ spricht, die in den Akten, insbesondere der Rickling-Mädchen und der Patmos-Kinder nicht benannt wurden, sich aber in den Folgen widerspiegeln.“, liest man auf S. 231. Die Autorin schreibt, dass etwas in den Akten „nicht“ benannt ist, sieht aber, dass sich die „Folgen widerspiegeln“. Da fragt man sich, welche Folgen die Autorin denn meint und wie eine Nicht-Medizinerin in der Lage ist, Folgen einer nicht genannten Therapie anhand von zeitgenössischen Akten beurteilen zu können. Damit hätte wahrscheinlich selbst ein Mediziner Schwierigkeiten.

 

Auf S. 66 heißt es: „Obwohl die genaue Todeszahl der Kinder und ihre Todesursachen bislang noch nicht ermittelt werden konnten, sprechen die bisher bekannten Tatsachen dafür, dass behinderte Kinder auch außerhalb des Kinderkrankenhauses bewusst getötet, in der NS-Sprache ‚geopfert‘ oder ‚behandelt‘ wurden.“

Wie kann es sein, dass eine Autorin nicht die „Todeszahl“ kennt, noch nicht einmal die „Todesursachen“, aber davon ausgeht, dass die Kinder „bewusst getötet“ wurden?

 

 

In diese historisch-wissenschaftlich unhaltbare Vorgehensweise reiht sich der Umgang mit ‚Mengenangaben‘ in diesem Buch nahtlos ein. Solche pauschalen Behauptungen wie  „eine zu hohe Todesrate“ (S. 14), „die große Anzahl der Sterbefälle“ (S. 26), „Oft finden sich jedoch Hinweise auf tuberkulöse Geschwüre“ (S. 38), „Zu- und Abgänge, die außergewöhnlich hoch sind“ (S. 190),  „die vielen Todesfälle, die in den Akten auf einen epileptischen Anfall zurückgeführt werden“ (S. 235), „in vielen Fällen wurde die Dosis gesteigert“ (S. 236), „von der vorgesehenen Obduktion wurde oft Abstand genommen“ (S. 238), „Obwohl ein nicht unerheblicher Kreis der Betheler MitarbeiterInnen die erhöhten Todesraten registriert haben muss“ (S. 252), können nicht einfach aufgestellt werden. Dafür müssten konkrete Zahlenangaben und Bezugsgrößen für einen Vergleich benannt werden.

 

Ebenso unwissenschaftlich schreibt die Autorin auf S. 232 und 233 über eine Patientin, die einen „LeistendrüsenTB-Tumor“ hat. In der Patientenakte taucht das Wort „Einschmelzung“ auf. Daraus zieht die Autorin den Schluss: „Nach dieser Patientinnengeschichte gehe ich davon aus, dass die TB-Experimente auch in Bethel nach der sog. Lanolin-Methode von Bessau (aktive TB-Impfung, Einschmelzung in Hüllsubstanzen, keine Nachweismöglichkeiten in Urin und Blut) erfolgten.“ Es ist rein spekulativ und vollkommen unhaltbar, anhand von einer einzigen Akte, in der diese medizinische Methode noch nicht einmal genannt ist, solch eine Behauptung aufzustellen.

Genauso wird das Beispiel einer einzigen Patientin für die Gefährlichkeit von Elektroschocktherapien aufgeführt: „Einige Todesfälle – wie der von Hanna Simsen (Ps.) – zeigen die Gefährlichkeit dieser Methoden.“ (S. 233). Die Autorin benennt nicht, dass sie nur sechs Akten aus dem Psychiatriebereich – also dort wo Elektroschockmethoden angewandt wurden – herangezogen hat.

 

 

Undurchschaubar ist der Umgang der Autorin mit Statistiken. Auf den S. 188 bis 203 werden endlose Zahlenreihen genannt, aus Bethel, aus Provinzialheilanstalten, aus anderen Anstalten der Inneren Mission sowie Statistiken aus dem Amt Gadderbaum. Erläuternde Vergleiche oder inhaltliche Einschätzungen zu den Zahlen anhand des historischen Kontextes werden nicht vorgenommen.

 

Gerade wenn es um Sterbefälle in Bethel und im Amt Gadderbaum geht, werden sämtliche Statistiken einfach durcheinandergeworfen ohne zu erläutern, welche Sterbefälle denn nun in welcher Statistik gezählt wurden. Es ist aber die Aufgabe der Forschung, die Genese einer Statistik genau zu erläutern und zu erklären, welche Sterbefälle welcher Statistik zugrunde liegen. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Für den Leser ist das nicht zu durchschauen. Aber es kann beim Leser leicht der Eindruck erweckt werden, dass es vielleicht doch ‚Unregelmäßigkeiten‘ gegeben hat.

 

Dieser Eindruck wird noch durch die ‚Rechenspiele‘ verstärkt, die die Autorin vornimmt. So wird ermittelt, dass im Verlauf des Zweiten Weltkriegs die Sterberate bei denjenigen Patienten, die entlassen wurden, zunimmt. Bis auf 51,41% im Jahr 1945 (S. 196). Was das aussagt, wenn man die Sterblichkeit auf Grundlage der Anzahl der Abgänge (Entlassene und Verstorbene) errechnet, wird nicht erläutert. Aber eine Zahl über 50% hört sich gewaltig an.

Dieser Umgang mit den Zahlen nimmt irrationale Züge an, wenn die Autorin die Anzahl der Sterbefälle auf der Grundlage der neu aufgenommenen Patienten prozentual errechnet und für 1944 auf 136,81 % (S. 196) kommt, sozusagen eine Sterberate über 100 %. Normalerweise käme niemand auf die Idee, solche Zahlen überhaupt zu vergleichen. Aber das Erschrecken der Leser ist so vorprogrammiert.

 

Zumal das Beispiel des Hauses Morija auf der S. 198 beweist, welch handwerkliche Mängel im Umgang mit den Statistiken vorhanden sind. Hier errechnet die Autorin die Sterberate anhand der Bettenzahl. Das ist schlicht falsch, weil die stetigen Zugänge – die es ja gerade in einem psychiatrischen Pflegehaus gab – gar nicht erfasst sind. So kann man nicht die Bettenzahl – in diesem Fall 200 – als Grundlage für eine prozentuale Berechnung nehmen. Es wurden pro Jahr selbstverständlich weitaus mehr Patienten verpflegt als Betten vorhanden waren.

 

Dennoch ist dieses Kapitel ein gekonntes Spiel mit Zahlen. Der Laie kann überhaupt nicht durchschauen, um was für Statistiken es sich handelt. Er versteht wahrscheinlich noch nicht einmal, wann es sich um zeitgenössische Statistiken handelt und wann um Berechnungen. Der Zweck, ein unangenehmes Gefühl bei den Lesern zu erzeugen, und zu suggerieren, bei all den vielen Statistiken sei doch ‚etwas verschleiert worden‘ wird auf jeden Fall erreicht. Was hängen bleibt ist: ‚zu hoch‘ und ‚da ist was nicht in Ordnung‘.

 

 

Was sich bei den Zahlen zeigt, setzt sich bei den Inhalten fort: Die Autorin betreibt das suggestive Arbeiten. Es wurde ja schon festgestellt, dass Degen an keiner einzigen Stelle direkt beschreibt, wo ganz konkret die bewusste Tötung von Patienten nachgewiesen werden kann. Wo war Nicht-Behandlung? Wo war falsche Medikation? Wo war das bewusste Verhungern lassen? Nirgendwo wird das benannt. Mit den Zahlen wird jongliert und die Einzelfälle von verstorbenen Patienten nur aneinandergereiht – natürlich mit der Wirkung, die solch eine geballte Auflistung von Sterbefällen auf den Leser zwangsläufig hat.

 

Immer wieder verknüpft die Autorin in unzulässiger nicht wissenschaftlicher Weise die allgemeine Geschichte mit der Betheler Geschichte. Sie wechselt innerhalb eines Absatzes unbemerkt die Perspektive, manchmal sogar innerhalb eines Satzes;  mal liegt der Focus auf der allgemeinen Geschichte im Nationalsozialismus und mal auf Bethel ohne genaue Zuordnung. Für einen Außenstehenden ist das nicht mehr zu durchschauen, man weiß nicht mehr, worüber die Autorin momentan gerade schreibt.

 

Zum Kapitel „Die toten Kinder haben Namen“ (S. 52 ff). In den Absätzen direkt vor der Nennung der Einzelfälle schreibt die Autorin von „Euthanasie“ und „Euthanasie-Opfern“. Dann folgen die Einzelfälle. Wie gesagt ohne Nennung einer direkten Tötung. Und das sich daran anschließende Kapitel beginnt mit dem Satz „Ab 1939 war der ‚Reichsausschuss‘, angesiedelt in der Kanzlei des Führers, zuständig für die Kinder-‚Euthanasie‘“ (S. 57). Da wird es sicherlich Leser geben, die sich dieser ‚Sogwirkung‘ gar nicht entziehen können.

 

Das setzt sich fort. Beispielsweise auf S. 113. Der obere Absatz endet mit „Frieden eines sanften Todes“. Es ist das Zitat eines T4-Mitarbeiters und hat mit Bethel gar nichts zu tun. Dann folgt im nächsten Absatz sofort „In Bethel ist nie ganz gelungen, diese ideologischen Vorgaben widerspruchsfrei umzusetzen.“. Wer die Anmerkung 172 nicht liest und das Wort „diese“ ganz wörtlich nimmt, könnte denken, das Zitat stamme von einem Bethel-Mitarbeiter.

 

Ganz besonders unseriös ist diese Art zu arbeiten auf der S. 155: Der Satz „Das letzte Schreiben an Bethel vor den T4-Verlegungen in die Gaskammern stammt von Ende November 1939“ muss dem Leser zwangsläufig suggerieren, in Bethel habe es ab November 1939 Verlegungen in Gaskammern gegeben. Ein überdeutliches Beispiel für die Art der Autorin, suggestiv zu arbeiten. Hier geht es um Anordnungen der Provinzialverwaltungen Patienten aus Bethel in Provinzialheilanstalten zu verlegen.

 

Auch bei der Schilderung einer Krankengeschichte (S. 221) zeigt sich dieses suggestive Arbeiten. Die Autorin sagt natürlich nicht explizit, dass die Patientin ein „Euthanasie“-Opfer war, aber in die Schilderung dieses Falls wird mittendrin der Satz eingeflochten: „Die ‚Euthanasie‘-Opfer, die mit Luminal in anderen Anstalten vergiftet wurden … .“.

 

Besonders perfide ist diese Form des Arbeitens, wenn es um den vorgeblichen Nachweis von Medizinexperimenten in Bethel geht (S. 221). In einem allgemein gehaltenen Absatz schreibt die Autorin von „Tötungspolitik“ und „Medizinexperimenten“ und leitet im nächsten Absatz zu der Frage über: „Wie sah es in Bethel aus?“ Dann folgt die Auflistung der Einzelfälle.

 

Auf der S. 235 findet sich das Zitat: „‘auch körperlich niedergeführten chronisch Schizophrenen, Sterbehilfe mit Luminal geleistet. Es genügten meist Gaben von täglich dreimal 0,3 gr auf drei Tage…‘“. Hier wird die Aussage eines Arztes wiedergegeben, der in der Anstalt Pirna-Sonnenstein Menschen mit Luminal nachweislich getötet hat.

Es handelte sich hier – wie in dem Zitat genannt – um Psychiatriepatienten. Bei Menschen mit Epilepsie war Luminal das Mittel der Wahl in der damaligen Zeit. Die Autorin hat schon bei der Nennung der Krankengeschichten nicht zwischen Psychiatrie und Epilepsie unterschieden. Und der Leser weiß nicht, wie viel Luminal die Patienten in Bethel bekamen und dass es überwiegend Epilepsiepatienten sind, die in dem Buch vorgestellt werden. Es soll ja suggeriert werden: Luminal – gefährliches Medikament – zum Töten eingesetzt.

 

Die Autorin beginnt ihre Publikation mit dem Kinderkrankenhaus Bethel. Dort nennt sie jährliche Sterberaten zwischen 1933 und 1945, die jedoch ohne jegliche inhaltliche Auswertung aufgeführt werden. Allein auf der Grundlage dieser absoluten Zahlen und der Prozentzahlen unterstellt die Autorin, dass die Kinder im Kinderkrankenhaus bewusst getötet wurden. Eine inhaltliche Erforschung hat nicht einmal ansatzweise stattgefunden.

„Für das systematische Töten (‚Euthanasie‘) spricht die überhöhte Todesquote, die hohe Anzahl der behinderten Kinder unter den toten Kindern und die ‚klassischen‘ ‚Euthanasie‘-Todesbegründungen wie ‚Pneumonie‘, ‚Tuberkulose‘, ‚Lebensschwäche‘ und ‚Ernährungsstörungen‘.“ (S. 27)

Zu der angeblich hohen Anzahl behinderter Kinder wird nicht eine einzige Zahl genannt. Und was die „klassischen ‚Euthanasie‘-Todesbegründungen“ angeht, unterliegt die Autorin einem Denkfehler: Hier handelt es sich um ein Kinderkrankenhaus, das von Kindern aufgesucht wurde, die gerade wegen dieser somatischen Erkrankungen kamen, darunter waren auch behinderte Kinder. Bei der „Kindereuthanasie“ – und in diesen Kontext stellt sie das Betheler Kinderkrankenhaus ja – hatte es sich ausschließlich um Kinder mit Behinderungen gehandelt. Bei ihnen wurde eine somatische Erkrankung in der Tat nur als Todesbegründung vorgeschoben.

Das Kapitel zum Kinderkrankenhaus endet mit der ungeheuerlichen Anschuldigung: „Beim gegenwärtigen Stand der Forschung hat es den Anschein, als sei Bethel ‚Vorreiter‘ für die Kinder-‚Euthanasie‘ gewesen, die wahrscheinlich an sehr viel mehr Orten stattgefunden hat als angenommen.“ (S. 43) Das ist in der Tat völlig unhistorisch weil in keiner Weise belegt und verleumderisch.

 

Wissenschaftlich gesehen ist das Vorgehen der Autorin unhaltbar. Sie hat noch nicht einmal kleine Ansätze zu einer inhaltlichen Darstellung des Kinderkrankenhaus unternommen: Etwa die Altersverteilung der verstorbenen Kinder ermittelt, oder die Krankheiten benannt, mit denen die Kinder das Krankenhaus aufsuchten oder versucht die Todesursachen zu quantifizieren. All das hätte vor jeglicher Aussage zum historischen Arbeiten dazugehört.

 

Nun laufen bereits seit dem Projekt zur Veröffentlichung zum 100-jährigen Jubiläum des Krankenhauses Gilead 2013 („Von Anfang an Evangelisch. Geschichte des Krankenhauses Gilead in Bielefeld“) historische Forschungen zum Kinderkrankenhaus zwischen 1930 und 1950.

Barbara Degen war bekannt, dass zum Kinderkrankenhaus bereits geforscht wird. Das hat die Autorin nicht davon abgehalten, ohne jegliche inhaltliche Forschungen zu Aussagen zu kommen, wie sie nun in ihrem Buch verbreitet werden. Das widerspricht allen Regeln von Fairness im Wissenschaftsbetrieb.

 

Es gibt bislang keinerlei Forschungen zu Kinderkrankenhäusern im Nationalsozialismus. Also auch keinerlei Erkenntnisse darüber, was zur damaligen Zeit eine gleichsam ‚natürliche‘ Sterberate in einem Kinderkrankenhaus war, schon gar nicht in einem Kinderkrankenhaus wie in Bethel, das sich auf Kinder mit schweren und schwersten somatischen Erkrankungen spezialisiert hatte und Kinder aus dem gesamten damaligen Regierungsbezirk Minden aufnahm.

 

Ein erster Schritt zur inhaltlichen Annäherung kann schon ein schlichter Vergleich der Sterblichkeit in der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit sein. Nun eignet sich für die Vorkriegszeit nur das Jahr 1938 zum Vergleich, da das Kinderkrankenhaus erst seitdem in der regionalen und fachlichen Spezialisierung seine ‚Blütezeit‘ erlangte. Zuvor verlief ein langsamer Wandlungsprozess vom früheren Kinderheim, das auch gesunde, aber verwaiste Kinder aufnahm, hin zu einer Klinik, die nur noch erkrankte Kinder behandelte. Im Jahr 1938 lag die Sterberate bei 11,5% (Diese und die folgenden Zahlen vorbehaltlich der laufenden Forschungen).  Aussagekräftiger ist allerdings der Vergleich mit der Sterberate der Nachkriegszeit: 1946 lag sie mit 22,9% etwa auf dem Niveau der Jahre 1940 (21,5%), 1944 (21,5%) und 1945 (23%). Auch die Sterblichkeit in den folgenden Jahren ist mit 15,7% (1947), 13,6% (1948) und 14,9% (1949), immer noch vergleichbar mit der der Kriegszeit oder zum Teil sogar höher: 1939 (14,5%), 1941 (13,5%), 1942 (14%), 1943 (17%). Somit lässt sich bereits mit einfachen Mitteln diese angeblich zu hohen Sterbezahlen während des Zweiten Weltkriegs relativieren. Ab 1950 ist ein Vergleich nicht mehr möglich, da seitdem verstärkt Antibiotika in Deutschland Verbreitung finden. Die Sterbezahlen im Kinderkrankenhaus Bethel gehen seit dieser Zeit zurück.  – Sterblichkeit und Todesursache, gar der Vorwurf der Tötung sind jedoch völlig verschiedene „Kategorien“!

 

Die Forschungen dauern noch an, und es ist durchaus begründbar, dass seriöse historische Forschung Zeit braucht.

 

 

Natürlich stieg die jährliche Sterberate in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Bethel an, was bisher auf die kriegsbedingte Verschlechterung der Ernährungslage zurückgeführt wurde. Unzureichende Ernährung wiederum führte zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit. Und es ist so, dass der Lebensstandard bei der Heimunterbringung auf jeden Fall schlechter war als der Lebensstandard der Durchschnittsbevölkerung. Das ist in der Forschung seit langem bekannt. Die Rationierung von Nahrungsmitteln traf die Einrichtungen der Wohlfahrtspflege stärker als die Allgemeinbevölkerung. Wie die Ernährungssituation in Bethel genau aussah, ist tatsächlich noch nicht erforscht. Und das liegt an der im Vergleich zu anderen Einrichtungen eben doch geringen Sterberate, die bisher als kriegsbedingt im ‚Normalbereich‘ eingestuft wurde. Im Epilepsiebereich lag die Sterberate 1939 bei 4,3%, steigerte sich dann über 4,9% (1941) auf 6,3% (1942) und 7,7% im Jahr 1944. Im Vergleich dazu hatte im Jahr 1937 die Sterberate bei 4,0% und 1938 bei 5,1% gelegen. Im Psychiatriebereich lagen die Zahlen etwas höher: 1939 verstarben hier 5,6% der Verpflegten. Die Rate stieg auf 7,0% (1942) und 9,5% im Jahr 1944. Vergleicht man auch hier die Vorkriegssterberate, so lag sie 1938 bei 4,3%, ähnlich wie schon 1933 und 1934, wo 4,2% aller im Psychiatriebereich der Anstalt Bethel gepflegten Männer und Frauen verstarben.