Menschennah | Geschichten aus Bethel
Er lässt sich von Rückschlägen nicht unterkriegen
Es ist Montagmorgen. Manch einem mag der Wochenstart schwerfallen, nicht so Carsten Hirsch: Gut gelaunt sitzt er an seinem Arbeitsplatz in der Briefmarkenstelle Bethel in Bielefeld. Vor ihm liegt ein Stapel Briefmarkenblöcke. Der 42-Jährige nimmt den obersten mit drei zusammenhängenden Postwertzeichen in die Hand und inspiziert akribisch die Rückseite. „Ich überprüfe, ob die Briefmarken kaputt sind“, erklärt er und wird direkt fündig. „Hier an dieser Stelle ist kein Kleber mehr.“ Er zeigt auf einen winzigen Punkt, der mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist. Vorsichtig löst er die fehlerhafte Briefmarke heraus und wirft sie in einen Korb, in dem bereits Marken mit abgebrochenen Zacken oder Verfärbungen liegen.
Im nächsten Jahr hat Carsten Hirsch 20-jähriges Jubiläum in der Briefmarkenstelle Bethel. Ihm gefällt an seinem Arbeitsplatz, dass es keinen Druck gibt und er in seinem Tempo arbeiten kann. „Wenn die Konzentration nachlässt, dann setze ich mich in den Pausenbereich und ruhe mich aus.“ Rund 125 Menschen mit Behinderungen sind in der Briefmarkenstelle Bethel beschäftigt. Sie nehmen gespendete Sendungen entgegen, sortieren die Marken und bereiten sie für den Verkauf vor. Der Erlös kommt der diakonischen Arbeit zugute.
Seit seinem zweiten Lebensjahr leidet Carsten Hirsch an Epilepsie. „Wenn ich früher einen Anfall bekommen habe, dann drehte sich mein Oberkörper um 180 Grad nach hinten und meine Arme fingen an zu zucken“, schildert er. Oft sei er dabei gestürzt. Insgesamt zwölf Brüche habe er infolge von Krampfanfällen schon davongetragen. „Seit der letzten Medikamentenumstellung bekomme ich eher nachts Anfälle, das ist gut, denn dann liege ich im weichen Bett“, erklärt der gebürtige Wilhelmshavener. Für Notfälle hat der stets freundliche Mann, der in einer eigenen Wohnung in einem Bielefelder Stadtteil lebt und ambulant von Bethel betreut wird, einen Hausnotrufknopf.
Bereits drei Operationen hat Carsten Hirsch hinter sich. Alle Eingriffe wurden in Amerika durchgeführt. 1987 zog die Familie aufgrund der beruflichen Versetzung des Vaters für ein Jahr nach Kalifornien. „Meine Eltern hatten großes Vertrauen in die Ärzte in den USA“, sagt Carsten Hirsch. Drei Jahre blieb er nach dem ersten chirurgischen Eingriff anfallsfrei. Dann meldete sich die Epilepsie zurück. Die Familie lebte mittlerweile wieder in Wilhelmshaven.
Ein weiteres Jobangebot des Vaters ermöglichte der Familie 1996 den erneuten Umzug in die USA. Die Stadt Thousand Oaks, etwa 45 Autominuten von Los Angeles entfernt, wurde für die nächsten sechs Jahre ihre neue Heimat. In dieser Zeit ließ sich Carsten Hirsch zwei weitere Male operieren. Die dritte OP sei riskant gewesen, weil die Ärzte nahe des Sehzentrums schneiden mussten. „Es bestand die Gefahr, blind zu werden“, erinnert er sich. Die Hoffnung, endlich anfallsfrei leben zu können, war jedoch größer als die Angst. „Leider bekam ich schon nach zwei Wochen wieder einen Anfall.“ Der Teenager ließ sich von diesen Rückschlägen nicht unterkriegen. Er machte seinen Highschool-Abschluss und kehrte mit der Familie nach Deutschland zurück.
Wegen der umfassenden medizinischen Versorgung und der vielen Arbeits- und Rehabilitationsangebote des Epilepsie-Zentrums Bethel zog Carsten Hirsch 2005 schließlich nach Bielefeld. Seit diesem Frühjahr wirkt er in einem Projekt des Krankenhauses Mara mit. In dem Betheler Fachkrankenhaus für Epileptologie und Inklusive Medizin sensibilisiert er als Inklusiver Lehr-Assistent Studierende der Medizinischen Fakultät OWL der Universität Bielefeld für die Besonderheiten der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Behinderungen. Im Betheler Büro für Leichte Sprache bringt sich der vielfach engagierte Mann darüber hinaus ein: Er prüft Texte, zum Beispiel in Flyern, Fragebögen oder Broschüren, auf ihre Lesbarkeit und Verständlichkeit für Menschen mit Einschränkungen. „Ich helfe gerne dabei, etwas zu verbessern.“
Text: Christina Heitkämper | Bild: Matthias Cremer
Diese Geschichte einfach gesprochen
Carsten Hirsch hat seit seiner frühen Kindheit Epilepsie. Er wurde dreimal in den USA operiert. Die Anfälle kamen wieder. Er nimmt Medikamente dagegen. Früher hat er sich oft Knochen gebrochen, weil er bei Krampfanfällen gestürzt ist. Der 42-Jährige arbeitet in der Briefmarkenstelle Bethel. Die Tätigkeit gefällt ihm.
Briefmarken für Bethel
Die Briefmarkenstelle Bethel freut sich über Briefmarken aus aller Welt und bietet Menschen mit Behinderungen eine sinnvolle Beschäftigung.