Menschennah | Geschichten aus Bethel
Richard Dege: Zeitzeuge eines bewegten Jahrhunderts
Richard Dege war ein besonderer Mann, der ein bemerkenswertes Leben lebte: 1924 kam er in Goslar auf die Welt, hineingeboren in eine schwierige – und zwischen 1933 und 1945 sogar lebensbedrohliche – Zeit. Körperlich erheblich beeinträchtigt, durchlebte er die umfassende Entwicklung des deutschen Hilfesystems des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib. Es ist die ungewöhnliche Lebensgeschichte eines Mannes, der stets optimistisch blieb und viel lachte, wie Zeitzeugen berichten. Und der im fortgeschrittenen Alter noch lernte, so gut mit dem Fuß zu malen, dass er zu einer kleinen Berühmtheit wurde.
Im Januar 1932 wurde der damals siebenjährige Richard Dege von seinen Eltern nach Bethel gebracht. Sie erhofften sich, dass ihr Sohn hier seinen Bedürfnissen entsprechend gepflegt und gefördert würde. Denn der Junge litt an einer zerebralen Bewegungsstörung mit Krampfanfällen, verursacht durch eine Hirnschädigung bei der Geburt. Aufgenommen wurde Richard Dege im Haus Patmos, wo er die nächsten zwölf Jahre wohnte.
Inklusion, Partizipation oder sogar persönliche Selbstverwirklichung, die heute Bethels Arbeit kennzeichnen, waren in jener Zeit unbekannte Begriffe. Aber auch damals gab es in Bethel Bestrebungen, die genau diesen Zielen entsprachen. So gaben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter große Mühe, Richard Dege so zu fördern, dass er am Anstaltsleben weitestgehend teilhaben konnte. Dazu gehörte auch, dass er von Beginn an, wie alle Kinder in Bethel, regelmäßig beschult wurde. Während der Jahre des faschistischen Deutschlands und des Zweiten Weltkriegs konnte der Junge, unbehelligt von den Repressalien der Nationalsozialisten, weiterhin in Bethel in seiner gewohnten Umgebung bleiben.
In den Nachkriegsjahren wurde Richard Dege Zeuge einer neuen Entwicklung: Das Bewusstsein für behindertengerechtes Leben stieg, auch wenn sich die damaligen Gegebenheiten noch sehr von den heutigen Möglichkeiten unterschieden. In der Akte von Richard Dege lassen sich einige Hinweise finden, die darauf schließen lassen, wie sehr man an einer „inklusiven Gemeinschaft“ interessiert war. Beispielhaft hierfür steht die Anschaffung eines eigens für ihn angefertigten Schiebefahrstuhls. Dieser Stuhl machte Richard Dege mobiler, und er konnte an Gruppenaktivitäten teilnehmen.
Als es in Deutschland in den 1970er-Jahren zu einem Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen kam, profitierte Richard Dege sehr von diesen Veränderungen. Eine amerikanische Physiotherapeutin übte mit ihm das kurzzeitige Sitzen. Nach zahlreichen Einzelstunden meisterte er diese Fähigkeit – für ihn ein großer Fortschritt, da er sich bis dahin lediglich liegend in seinem Rollstuhl hatte bewegen lassen können. So selbstverständlich der Einsatz von Physiotherapie heute ist, so besonders und neu war sie damals, als individuelle Förderung und Behandlungsmöglichkeiten noch nicht die Regel waren.
Mit der Hilfe eines Diakons schaffte es Richard Dege schließlich sogar, seiner Kreativität Ausdruck zu verleihen: Trotz seiner Lähmung lernte er mit Mühe und Beharrlichkeit, Bilder zu malen. Den Pinsel hielt er dabei zwischen seinen Zehen. Mit diesem Talent wurde er zu einer kleinen Berühmtheit in und um Bethel. Seine farbenfrohen Kunstwerke wurden vielfach verkauft. Den Erlös behielt er nicht ein, sondern finanzierte damit eine Patenschaft für einen kleinen Jungen in Indien.
In jener Zeit erhielt er erstmalig ein Einzelzimmer im Haus Jabbok – eine Veränderung, über die er sich begeistert äußerte: „Ich halte das für richtig, weil man dann für sich wohnen und leichter jemanden zu sich einladen kann. […] So schön hatte ich mir alles nicht vorgestellt.“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der fast 61-Jährige nie etwas anderes kennen gelernt als die großen Bettensäle. Sogar für die sanitären Anlagen fand er Lob – und dachte dabei auch an die Mitarbeitenden: „Die Baderäume sind auch schön. Die Badewanne kann man heben und senken. Zum Einsteigen ist sie unten; wenn man drin ist, wird sie automatisch gehoben, damit die Mitarbeiter sich nicht so tief bücken müssen, wenn sie uns waschen. Das finde ich klasse!“ Einen eigenen Kühlschrank, eine eigene Garderobe, Radio, Fernseher und Plattenspieler in den Gemeinschaftsräumen – über all diese Dinge freute sich Richard Dege.
Nur ein Jahr war es ihm vergönnt, ein Zimmer für sich alleine zu haben. Im Alter von 62 Jahren verstarb Richard Dege am 17. September 1986. 54 Jahre verbrachte er in Bethel – fast sein ganzes Leben. 1988 wurden seine Erinnerungen, die er im Laufe seines Lebens mündlich weitergegeben hatte, als Buch veröffentlicht.
Text: Alina Lisanne Ebmeyer | Foto: Hauptarchiv Bethel
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Richard Dege war ein besonderer Mann. 1932 kam er nach Bethel. Er war 7 Jahre alt und körperlich sehr beeinträchtigt. Trotz seiner Lähmung lernte er Bilder zu malen. Den Pinsel hielt er dabei mit dem Fuß. So wurde er in Bielefeld bekannt. Mit seinen Bildern verdiente er etwas Geld. Das nutzte er für eine Patenschaft für einen Jungen in Indien.
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