„Auf der Straße bist du auf dich gestellt“
Auf Parkbänken übernachten, bei klirrender Kälte im Freien fast erfrieren und täglich um Geld betteln: Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, welchen Kampf Obdachlose jeden Tag führen. Heinz-Gerd Bredefeldt schon: 18 Jahre hat der heute 76-Jährige auf der Straße verbracht. „Was ich da erlebt habe, hätte ich sonst nirgendwo erlebt“, sagt der Rentner und meint damit nicht nur die sozialen Abgründe eines Lebens ohne Zuhause, sondern auch erlernte Tricks und lebensgefährliche Situationen. „Viele Leute haben mir schon gesagt, ich solle mal ein Buch darüber schreiben – das wäre bestimmt ein Verkaufsschlager.“
Für den damaligen Justizhauptwachtmeister begann die persönliche Misere mit einem typischen Teufelskreis: Alkoholprobleme, Scheidung von seiner Frau, noch mehr Alkoholkonsum und schließlich die daraus resultierende Entlassung aus dem Beamtenverhältnis. „Von da an ging nichts mehr. Ich konnte die Wohnung nicht mehr halten und bin in ein Loch gefallen“, erinnert sich Heinz-Gerd Bredefeldt. In Mühlheim an der Ruhr kam er dann zum ersten Mal in einer Obdachlosenunterkunft unter. Doch als er sie nach drei Tagen wieder verlassen musste, begann seine Odyssee durch das Ruhrgebiet. Mit manchen Obdachlosen entstanden Freundschaften, von anderen wurde er bestohlen. „Auf der Straße bist du auf dich gestellt. Da ist sich jeder selbst der Nächste.“
Während des Platte-Machens lernte Heinz-Gerd Bredefeldt, der immer mit seinem Fahrrad und einer kleinen „Notfallapotheke“ unterwegs war, alle „faulen Tricks“. Um sich tagsüber aufzuwärmen, saß der Obdachlose zum Beispiel in öffentlichen Gerichtsverhandlungen – ohne das Thema des Prozesses zu kennen. Außerdem wusste er irgendwann genau, in welchen Gemeinden die Sozialämter die höchsten Tagessätze zahlten. Da die Auszahlungen in den 1980er-Jahren noch nicht elektronisch erfasst wurden, bekam der gebürtige Oberhausener an einem Tag oft in mehreren Städten Geld. Seine einfache Rechnung: „Wenn man drei Sozialämter an einem Wochenende abgegrast und betrogen hatte, war man satt.“
Nachdem Heinz-Gerd Bredefeldt alle Obdachloseneinrichtungen im Ruhrgebiet mindestens einmal durchlaufen hatte, zog er weiter nach Niedersachsen: Auch dort lief der Tag immer nach dem gleichen Muster ab: „Morgens auf dem Sozialamt den Tagessatz abholen, mittags betteln und nachmittags hoch die Tassen“, berichtet der langjährige Sozialhilfeempfänger. Der übermäßige Alkoholkonsum auf der Straße ließ ihn einmal sogar fast erfrieren. Bei einer Übernachtung im Freien fiel die Temperatur auf minus 21 Grad. Als er morgens in seinem Schlafsack aufwachte, war dieser komplett gefroren – nur mit viel Glück blieben seine Gliedmaßen verschont. „Ab einem gewissen Alkoholpegel merkt man die Kälte nicht mehr, man schläft einfach ein“, erinnert sich Heinz-Gerd Bredefeldt an die gefährliche Nacht.
Mit zunehmenden körperlichen Problemen entdeckte der damals 150 Kilogramm schwere Mann auf seiner „Fahrrad-Tournee“ an einem Bahnhof plötzlich ein Plakat der Obdachlosenhilfe in Freistatt. Dort angekommen, stellte ein Arzt bei ihm einen starken Diabetes fest. „Die Insulinspritzen haben mich dann in Freistatt gehalten“, erzählt der heute Genesene mit einem Schmunzeln. Während seiner insgesamt 25 Jahre in einer privaten Wohnung in Freistatt und dem Haus Morgensonne in Heimstatt hat Heinz-Gerd Bredefeldt nicht nur seine körperlichen Probleme in den Griff bekommen, sondern auch dem Alkohol abgeschworen. „Wenn ich im Edeka einkaufen war, habe ich vor dem Schnapsregal einige Male mit mir gekämpft. Aber ich bin hart geblieben.“ Obwohl Heinz-Gerd Bredefeldt nach 18 Jahren auf der Straße nichts an der Obdachlosigkeit vermisst, zaubern ihm viele Erinnerungen an diese Zeit ein Lächeln ins Gesicht. Denn eines hat der Klient in seinem bewegten Leben nie verloren: seinen Humor. „Wer hier alles ernst nimmt, kann direkt in die Kiste.“
Fotos: Christian Weische