„Die Gründe sind vielfältig – und es gibt ganz unterschiedliche Schicksale“
Experten-Interview mit Thomas Bohne
Seit mehr als 30 Jahren ist Thomas Bohne in der Wohnungsnotfallhilfe tätig. Als Regionalleiter für Bethel.regional verantwortet er seit 2022 den Bereich des östlichen Ruhrgebiets, in dem sich zum Beispiel die Heimathöfe Gelsenkirchen und Castrop-Rauxel befinden. Rund 100 Menschen nutzen Bethels ambulante und stationäre Angebote der Wohnungsnotfallhilfe in der Region.
„Wer es nicht will, der muss auch nicht auf der Straße leben.“ Herr Bohne, was sagen Sie jemandem, der diese Ansicht vertritt?
Thomas Bohne: Das ist eine gängige Meinung. Und die Aussage selbst ist insofern korrekt, als dass die Kommunen ordnungsrechtlich dazu verpflichtet sind, Übernachtungsstellen für wohnungslose Menschen anzubieten. Allerdings gibt es viele Angebote, die die Menschen nicht gerne nutzen; in denen sie nicht einmal für eine Nacht bleiben möchten. Viele ziehen es angesichts der Umstände in solchen Stellen vor, lieber draußen zu schlafen. Die Ausstattung ist oft schlecht, und es befinden sich zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Es gibt Städte, die behaupten, sie hätten gar kein Problem mit Wohnungslosigkeit – und deshalb bieten sie nur eine sehr begrenzte Anzahl an Plätzen an. Und andere Städte haben die Kapazitäten, aber vermeiden es bewusst, die Angebote „zu schön“ zu gestalten, weil sie fürchten, dass dann zu viele Menschen kommen.
Wäre das Problem der Wohnungslosigkeit gelöst, wenn jeder ein Dach über dem Kopf hätte?
Bohne: Es wäre jedenfalls dringend notwendig, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum vor allem in den großen Städten gibt. Es gibt aber auch andere Gründe dafür, dass Menschen auf der Straße leben – zum Beispiel, weil sie psychisch erkrankt sind. Oftmals ist es dann so, dass die Menschen ohne Behandlung sind und sich auch selbst nicht als erkrankt wahrnehmen. Wenn jemand in so einer Situation beschließt, auf der Straße zu leben, dann ist es meiner Meinung nach doch eine Entscheidung, die nicht ganz frei getroffen wurde. Trotzdem müssen wir im Bereich der Wohnungsnotfallhilfe respektieren, dass Menschen sich so entscheiden und zunächst keine andere Hilfe wollen – auch, wenn es für einen selbst schwer auszuhalten ist.
Warum landen Menschen sonst noch auf der Straße?
Bohne: Die Gründe sind vielfältig – und es gibt ganz unterschiedliche Schicksale. Menschen, die drogenabhängig sind, laufen Gefahr, ihre Wohnung zu verlieren; nicht nur, weil Drogen viel Geld kosten, sondern auch, weil sie die Persönlichkeit eines Menschen sehr negativ beeinflussen können. Andere sind vor einem Krieg geflüchtet oder kommen auf der Suche nach Arbeit zu uns. Wieder andere rutschen aufgrund einschneidender Lebensereignisse in die Wohnungslosigkeit – zum Beispiel durch den Tod eines Angehörigen. Ein Beispiel, das mir sehr präsent in Erinnerung geblieben ist, ist das eines Mannes, der Meister bei einem hiesigen Stahlunternehmen war. Als seine Ehefrau verstorben ist, hat die Trauer dazu geführt, dass er anfing zu trinken, und als er die Raten für seine Wohnung nicht mehr gezahlt hat, ist er auf der Straße gelandet. Über einen Tagesaufenthalt hat er dann Kontakt zu einem Beratungsangebot bekommen und konnte wieder in eine feste Wohnung ziehen. Später war er sogar für dieses Angebot als Ehrenamtlicher tätig und hat Menschen in Not auf der Straße angesprochen.
Haben sich die Gründe für Wohnungslosigkeit mit der Zeit verändert?
Bohne: Eine Beobachtung ist, dass viele Menschen in Krisensituationen zunehmend weniger in der Lage sind, die bürokratischen Schritte zu unternehmen, um eine Wohnung zu halten – sei es, weil sie in einer psychischen Ausnahmesituation sind, oder zum Beispiel auch, weil sie nicht die nötigen Sprachkenntnisse haben. Die gesellschaftliche Entwicklung geht immer mehr in Richtung Individualisierung. Gerade in den größeren Städten sind immer mehr Menschen alleine und ohne familiäre Unterstützung. Eine andere große Veränderung erleben wir durch die Armutsmigration aus Süd- und Osteuropa, die in den vergangenen 10 bis 20 Jahren deutlichzugenommen hat. Gesetzlich ist es so geregelt, dass diese Menschen, wenn sie auf der Suche nach Arbeit herkommen, meist keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. In der Auslegung vieler Städte schließt das auch den Anspruch auf eine Notunterkunft aus. Aber bevor sie wieder nach Hause fahren, übernachten viele von ihnen dann notgedrungen lieber auf der Straße.
Man hat den Eindruck, die meisten wohnungslosen Menschen sind Männer. Ist Wohnungslosigkeit ein männliches Problem?
Bohne: Rund zwei Drittel der wohnungslosen Menschen sind männlich, aber der Anteil an Frauen steigt kontinuierlich. Dennoch sind wohnungslose Frauen deutlich seltener im öffentlichen Raum sichtbar. Frauen halten sich öfters bei Bekannten auf. Allerdings zahlen viele von ihnen einen hohen Preis dafür. Es gibt viele Frauen, die aus Angst, auf der Straße zu leben, auch destruktive Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse aufrechterhalten oder Gewalt in Kauf nehmen. Das reicht in einigen Fällen soweit, dass sie sexuell ausgebeutet werden.
Gibt es auch Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung von wohnungslosen Menschen?
Bohne: Der Ton wird rauer – auch in der öffentlichen Diskussion. Und wir merken, dass die Aggressionen gegenüber wohnungslosen Menschen größer geworden sind. Betteln wird häufiger als Belästigung empfunden, und Menschen, die wohnungslos sind, machen häufiger Gewalterfahrungen. Es ist aber auch so, dass das Betteln selbst öfter aggressiver durchgeführt wird, weil immer mehr Bettelnde untereinander in Konkurrenz stehen.
Wie könnte man die Wohnungsnotfallhilfe verbessern?
Bohne: Wohnungslose Menschen fallen oft durch alle Raster. Die Versorgungsangebote sind das eine, aber wir müssen viel mehr darauf achten, wohnungslosen Menschen wieder Perspektiven zu geben. Der Mensch will nicht nur von Almosen leben. Und ich erlebe, dass wohnungslose Menschen durchaus wieder sinnvolle Tätigkeiten ausüben wollen. Bethels Ansatz ist es deshalb, nachhaltige Hilfe zu leisten. Unsere Klientinnen und Klienten sollen eine Wohnung bekommen und wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Unsere Hilfeangebote sollten nicht dazu führen, dass sie systemerhaltend für die Wohnungslosigkeit sind – das allein kann nicht die Lösung sein.
Was braucht eine Hilfeleistung, um nachhaltig zu sein?
Bohne: Zunächst müssen diejenigen, um die es geht, an den Prozessen beteiligt sein. Dann muss man genau hinschauen, wie die individuelle Notlage aussieht und wo man denjenigen oder diejenige unterstützen kann. Man muss sich dann gemeinsam mit ihm oder ihr auf den Weg machen, eine Wohnung finden und wieder Teilhabe in allen Lebensbereichen gewährleisten. Ein geregeltes Einkommen und eine Tagesstruktur haben – das ist die Zielsetzung unserer Arbeit. Die Menschen brauchen einen Grund, um morgens aufzustehen. Sie müssen an einen Punkt gelangen, an dem sie sich selbst wieder als jemanden wahrnehmen, der etwas bewegt, der etwas kann, der sich einbringt. Ich finde es bedauerlich, dass diese Menschen in unserer Gesellschaft so wenig gefragt sind. Es ist viel zu oft so, dass niemand mehr etwas von ihnen erwartet.
Fotos: Matthias Cremer