Olga Fastovez lächelt ein Kind an, das von hinten zu sehen ist

Menschennah | Geschichten aus Bethel

„Wir beteten: Hoffentlich treffen uns die Raketen nicht“

Olga Fastovez arbeitete in der Ukraine in einer Einrichtung für schwerkranke Kinder und Jugendliche. Als dort der Krieg begann, flohen sie zusammen. Hier erzählt sie ihre Geschichte.

Mein Name ist Olga Fastovez, ich bin 64 Jahre alt. Kurz nach Kriegsbeginn bin ich im März 2022 mit einer Gruppe von mehr als 30 Kindern und Jugendlichen mit schweren Beeinträchtigungen und mit weiteren Betreuerinnen aus meiner ukrainischen Heimatstadt Bila Zerkwa geflohen. Bila Zerkwa bedeutet Weiße Kirche, hat rund 200.000 Einwohner und liegt etwa 70 Kilometer südlich von Kiew. Zusammen leben wir jetzt seit eineinhalb Jahren im Haus Mamre in Bielefeld-Bethel.

Ich habe nicht geglaubt, dass es diesen Krieg geben könnte. Als ich zum ersten Mal eine Rakete sah, dachte ich, das sieht aus wie ein am Himmel fliegendes Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern. Die Einrichtung für schwerkranke Kinder und Jugendliche, in der ich in Bila Zerkwa arbeitete, liegt zwischen einer Kaserne und einem Flughafen und damit im Visier der russischen Angreifer. Es war schnell klar, dass wir von dort wegmüssen.

Olga Fastovez schaut zu jemanden

Wir sind zuerst nach Polen geflohen. In dem Bus, in dem ich mitfuhr, konnten wir die schwerkranken Kinder und Jugendlichen, um die wir uns kümmern, nicht ordentlich sichern. Wir mussten manche von ihnen auf den Boden legen, damit sie nicht stürzen und sich verletzen. Wir fuhren stundenlang und beteten: Hoffentlich treffen uns die Raketen nicht. In Kolberg in Polen blieben wir zwei Wochen und lebten alle zusammen in einem Raum. Bald sagte man uns: Fahrt weiter nach Deutschland, nach Bethel, dort wird es den Kindern bessergehen!

Ich war skeptisch. Heute sage ich: Es hat sich bewahrheitet. Unsere kranken Kinder und Jugendlichen, die voller Angst und von der Flucht total erschöpft waren, haben es hier dank der Hilfe von Bethel so viel besser. Es ist so schön zu sehen, dass sie hier behandelt werden wie andere Kinder auch. Dass sie gefördert werden, dass sie zur Schule gehen. Dass man sich um sie kümmert, dass sie Kleidung erhalten. Das ist in Deutschland vielleicht normal. In der Ukraine nicht. Dort erhalten kranke Kinder nicht solche Unterstützung.

Bethel gefällt mir sehr. Es ist alles so schön sauber und grün hier. Ich mag auch das Tempolimit von 30 km/h in der Ortschaft und dass die Autos vor den Zebrastreifen halten. In Bila Zerkwa fahren alle so schnell, es ist so gefährlich. Bevor ich herkam, habe ich mein ganzes Leben in Bila Zerkwa verbracht. Ich konnte es mir finanziell nicht leisten, in Urlaub zu fahren. Jetzt ist das möglich. Ich verdiene in Bethel genug Geld, um meine Heimatstadt zu besuchen und meinen Verwandten Geschenke mitzubringen. Meiner 14-jährigen Enkelin, die mit meiner Tochter in Polen lebt, habe ich ein Handy geschenkt. Sie sagte: „Oma, du bist eine reiche Frau geworden!“ Wir haben gelacht.

Olga Fastovez lächelt in die Kamera
»Was wir gemeinsam erlebt haben, verbindet uns für immer.«
Olga Fastovez, Betreuerin in Bethel

Mein Neffe ist im Krieg, der Mann meiner Nichte auch. Telefonate mit ihnen sind sehr kurz. Sie sagen: „Es geht mir gut“, dann legen sie schnell auf, damit die russische Armee ihre Position nicht orten kann. Als mein Neffe wegen eines Lungendurchschusses im Krankenhaus lag, hat er schreckliche Dinge aus dem Krieg erzählt. Vom Sterben der Soldaten, von Feldern, die mit Leichen übersät sind, ukrainischen genauso wie russischen. Es ist so unvorstellbar grauenhaft. Warum können wir nicht in Frieden zusammenleben? Warum Krieg? Ich verstehe das nicht.

Olga Fastovez gestikuliert mit den Händen

Ich bin sehr dankbar, dass ich in Bethel arbeiten darf, und es geht mir gut. Meine ukrainischen Kolleginnen, die mit mir geflohen sind und sich mit mir um die Kinder und Jugendlichen kümmern, empfinden es genauso. Wir wollen arbeiten, wir wollen nicht von staatlicher Unterstützung leben. Manche Menschen in der Ukraine glauben, in Deutschland gebe es einfach so Geld für alle. Ich weiß jetzt, dass es nicht so ist. Man muss hier hart dafür arbeiten. Aber das will ich, und ich mache die Arbeit gern, weil ich täglich so viel von den Kindern und Jugendlichen zurückbekomme. Außerdem lasse ich mich nicht unterkriegen. Man muss sich bewegen und nach vorn schauen, das ist meine Einstellung zum Leben. Kürzlich bin ich in eine Mietwohnung in Bethel umgezogen. Später möchte ich aber in meine Heimat zurückkehren.

Im Ukrainischen gibt es ein Sprichwort: „Da, wo du geboren bist, zieht es dich hin.“ So ist es. In Bila Zerkwa steht mein Haus, dort sind die Gräber meiner Eltern, meines Mannes, der vor zwei Jahren an Corona starb, und meines Sohnes, der vor 18 Jahren in einem Fluss ertrank. Jetzt habe ich noch meine Tochter und meine Enkelin. Für sie lebe ich. Und für die Kinder, um die ich mich in Bethel kümmere. Sie sind wie meine eigenen Kinder, ich habe sie sehr liebgewonnen. Was wir gemeinsam erlebt haben, verbindet uns für immer.

Übersetzung: Katharina Enns | Protokoll: Philipp Kreutzer | Foto: Matthias Cremer

Diese Geschichte einfach gesprochen

Olga Fastovez arbeitete in der Ukraine in einer Einrichtung für schwerkranke Kinder und Jugendliche. Als dort der Krieg begann, flohen sie zusammen. Die Flucht war sehr anstrengend. Sie hatten große Angst. Jetzt leben Olga Fastovez und die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine in Bethel. Dort geht es ihnen viel besser.

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