Menschennah | Geschichten aus Bethel
Zu Hause auf der Straße
Die ersten beiden Jahre seien hart gewesen, sagt Jens. „Ich musste lernen, wie sich der Winter und die anderen Jahreszeiten nachts draußen anfühlen“ erzählt er, „bis dahin hatte ich nicht mal gecampt.“ Inzwischen ist der 52-Jährige seit fast zwölf Jahren obdachlos. Zurück in ein festes Zuhause möchte er nicht.
„Ich mache Platte“, sagt Jens, und er meint das wirklich so: Hart und eben muss der Untergrund für sein Nachtquartier sein. Aus Marmor zum Beispiel. Darauf breitet er eine Decke aus und schiebt, weil er Seitenschläfer ist, ein Ovalkissen unter sein Becken. Weitere Decken legt er über sich. Wie viele, hängt von der Witterung ab. „Entscheidend ist, dass sich darunter durch meine Körperwärme eine Wärmeblase bildet“, erklärt er, „dann kann ich wunderbar schlafen.“ Das Zwiebelprinzip wendet Jens auch für seine Kleidung an. Bis zu vier Jogginghosen trägt er übereinander und genauso viele Pullover. Bei Schnee und Regen kommt ein Poncho hinzu. „Jacken benutze ich nicht“, sagt er, „die funktionieren für die Wärmeregulierung nicht gut.“ Über seine Füße zieht er im Winter jeweils zwei dünne Strümpfe und eine Thermosocke. So trägt er bei Trockenheit nicht einmal feste Schuhe. In Sandalen fühlt Jens sich wohler.
Wer draußen zurechtkommen müsse, benötige aber mehr als das Wissen um die richtige Ausrüstung, erzählt Jens: „Man braucht menschliche Reife, damit man auch in stressigen Situationen die Ruhe bewahrt.“ Wichtig sei auch vorausschauendes Handeln. Also sich die Kräfte einzuteilen, die Wettervorhersage zu kennen und die Optionen für die nächsten Nächte auszuloten. Seinen Schlafplatz wechselt Jens häufig, „sonst bin ich zu leicht auszurechnen“. Immer am selben Ort und für Menschen sichtbar zu sein kann gefährlich werden: Obdachlose erfahren nicht nur Ablehnung, sondern immer häufiger auch Gewalt.
In Bielefeld gebe es zurzeit rund 80 obdachlose Menschen, schätzt Leonhard Wohlfahrt, Leiter des Betheler Sozialdienstes in der Bielefelder Viktoriastraße. Noch vor wenigen Jahren seien es nur halb so viele gewesen. Die Gründe für den Anstieg: immer weniger bezahlbarer Wohnraum und geflüchtete Menschen, die auf den Wohnungsmarkt drängen. Sogar rund 600 Menschen – 500 Männer und 100 Frauen – sind es, die als Wohnungslose beim Sozialdienst ihre Meldeadresse haben. Sie haben keinen festen Wohnsitz, doch nur die wenigsten von ihnen schlafen wie Jens nachts draußen. Sie kommen in Notunterkünften oder bei der Familie oder Freunden unter.
Jens stammt aus einem bürgerlichen Elternhaus, machte Abitur und spielte Handball. Fragt man ihn, wie er obdachlos wurde, antwortet Jens vage. Er erwähnt komplizierte Verbindungen zu anderen Menschen und problematische Wohnverhältnisse. Seine ganze Geschichte mag er nicht erzählen, seinen echten Namen nicht preisgeben. Bloß nicht zu leicht „ausrechenbar“ sein. Eindeutig ist dagegen seine Erwiderung auf die Frage, warum er die Nächte nicht zumindest in einer Notunterkunft verbringe: „Weil dort Leute sind, die im Gegensatz zu mir Drogen nehmen oder ein Alkoholproblem haben. Das sind genau die, die mir gern mein Portemonnaie stibitzen.“
Lieber ist er tagsüber in den Räumen von Bethels Sozialdienst, wärmt sich auf und holt seine Post ab. In der wenige hundert Meter entfernten Kava, Bethels Tagesaufenthalt für Menschen in besonderen Lebenslagen, duscht Jens und wäscht seine Kleidung. Wäre ein echtes Zuhause mit festem Dach über dem Kopf nicht besser? Momentan nicht, findet Jens. Einen Haushalt zu führen falle ihm auch wegen seiner künstlichen Kniegelenke sehr schwer, „und ich habe mich an das Leben draußen und an die Flexibilität gewöhnt“.
Dass es für ihn ein passendes Zuhause inklusive individuell auf ihn zugeschnittener Unterstützung geben könnte, hat Leonhard Wohlfahrt ihm längst aufgezeigt. Er und sein Team geben die Hoffnung auf ein besseres Leben für Jens nicht auf. „Es ist seine freie Entscheidung, auf der Straße zu leben“, sagt Leonhard Wohlfahrt. „Aber vielleicht kommt irgendwann der Moment, in dem er sagt, es geht nicht mehr. Dann sind wir da und helfen ihm.“
Text: Philipp Kreutzer | Fotos: Christian Weische
Diese Geschichte einfach gesprochen
Jens hat kein festes Zuhause und lebt auf der Straße. In einer Wohnung wohnen möchte er derzeit lieber nicht. Die Nächte verbringt er draußen. Tagsüber geht er gerne in Bethels Angebot Kava in Bielefeld. Dort kann er duschen und seine Kleidung waschen.
Sie möchten mehr erfahren?
Kontakt
Bethel.regional
Die Kava – Treffpunkt für Menschen in besonderen Lebenslagen
Kavalleriestraße 18
33602 Bielefeld
Jens Cordes, Karsten Weishaar
0521 3057285
die.kava(at)bethel.de
Zur Website der Einrichtung
Angebote & Leistungen
Die Kava richtet sich an von Wohnungslosigkeit bedrohte und wohnungslose Menschen, an Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und Menschen, die Schwierigkeiten im Umgang mit Alkohol haben. In der Kava gibt es Aufenthaltsmöglichkeiten, die Möglichkeit zur Nutzung von Dusche, Waschmaschine und Trockner, Getränke und Essen zum Selbstkostenpreis, Tageszeitungen, Internetanschluss, Fernsehen, Gesprächsmöglichkeiten sowie Sprechstunden von Streetmed, der aufsuchenden Gesundheitsfürsorge.