Nachrichten
Hochkarätige Keynotes beim 12. CRA-Kongress

Dr. Martin Reker begrüßte das Publikum.
Lernen, die Sucht zu verstehen
Mit „Verantwortung, Sorge und Vertrauen: Reflexion über die Grundkonstanten einer nachhaltigen (Sucht-)Medizin“ war der 12. Kongress für gemeindeorientierte Suchttherapie, den Community Reinforcement Approach (CRA), in Bielefeld überschrieben. „Wir haben diesen weichen Titel gewählt, weil wir den Fokus auf Aspekte legen wollen, die in der Medizin und Therapie zu kurz kommen: auf die menschliche Medizin“, sagte Dr. Martin Reker, Leitender Arzt der Suchtabteilung der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Evangelischen Klinikum Bethel. Dr. Reker ist Vorsitzender des Vereins für gemeindeorientierte Psychotherapie, der den CRA organisiert.
Mit Prof. Dr. Giovanni Maio von der Albert-Ludwigs Universität in Freiburg wurde der Kongress bewusst mit einem Medizinethiker eröffnet. Unter dem Titel: „Die Sucht zwischen Verletzlichkeit und Appell an die Sorge“, richtete Prof. Maio in einem beeindruckenden Vortrag den Blick auf den hilfesuchenden Menschen, der sich der Suchthilfe anvertraut. Suchthilfe, erklärte Maio, heiße die Sucht selbst zu verstehen als eine Möglichkeit des bedrängten Menschen, zunächst aus einer schwierigen Situation herauszukommen. „Die gegenwärtige Belohnung blendet das Zukünftige aus“, sagte Maio. Der Rausch sei eine Möglichkeit, das Unerträgliche erträglich zu machen – das allerdings um den Preis einer realistischen Zukunftswahrnehmung. Das Paradoxe an der Sucht: Was als Lösung wirke, bereite am Ende mehr Probleme. Oft gingen der Sucht Verletzungen oder Traumata voraus. In der Suchttherapie gehe es deswegen darum, das rettende Moment der Sucht entbehrlich zu machen.

Um das zu erreichen, brauche es zwischen Therapeut und Süchtigem ein Gemeinschaftsgefühl: nicht nur behandeln, sondern begleiten. Etwas, das Maio „ein Bündnis“ nennt in dem Wissen, dass es „keinen unverletzlichen Menschen gibt: Verletzlichkeit ist ein Grundexistenzial eines jeden Menschen.“ Darin gelte es mit einer Kultur der Sorge und ohne Bevormundung Ressourcen im Süchtigen zu erkennen, damit dieser sich weiterentwickeln könne. „Suchttherapie versucht, die Restgrade von Selbstbestimmung zu erkennen und innere Antriebskräfte einzusetzen“, sagte Maio. Es gehe gerade nicht um die Vorgabe von Lösungen. „Es kann keine allgemeine Form von Therapie geben, immer nur eine partikulare. Situative Kreativität ist ganz entscheidend.“ Dass es dabei immer wieder zu Rückschlägen komme und nirgendwo so viel Geduld gefragt sei wie in der Suchthilfe, müsse man anerkennen. „Rückfälle dürfen nicht als Scheitern vermittelt werden, Süchtige sind schon gescheitert“, mahnte Maio.

Wie sehr aber Süchtige immer wieder Diskriminierung erleben und von der Gesellschaft stigmatisiert werden, machte Prof. Dr. Georg Schomerus von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie aus Leipzig in seinem Vortrag deutlich. „Alkoholiker beispielsweise gelten als willensschwach und unehrlich. 80 Prozent der Deutschen sind der Meinung, diese seien selbst schuld“, sagte Prof. Schomerus. Bei Diabetes, der als Krankheit durchaus auch Fehlverhalten vorausgegangen sein könnte, sagten das hingegen nur 30 Prozent. „Menschen mit Sucht werden besonders stark abgelehnt“, stellte Schomerus fest. Viele hingen dem Glauben an, Süchtige müssten erst einmal ganz unten angekommen sein und mit Missbilligung gestraft werden, damit sie ihre Lebensweise änderten. „Stigmatisierung machte die Behandlung aber nicht leichter, sondern schwerer“, weiß Schomerus aus der Praxis. Öffentliche Ablehnung führe dazu, dass Alkoholiker ihre Krankheit lange verheimlichten und Hilfsangebote nicht annähmen. Es käme sogar zu einer Selbststigmatisierung. „Der Verlust an Selbstwert und Scham führt dann zur Verzagtheit in der Therapie“, so Schomerus. Er fordert: „Im professionellen Hilferaum hat die Missbilligung nichts zu suchen.“
Und er hat eine These, warum unsere Gesellschaft so handelt, die im europäischen Vergleich führend ist im Alkoholkonsum: „Mit der Stigmatisierung von Alkoholabhängigen bagatellisiert eine Gesellschaft ihren eigenen Konsum“, sagte Schomerus. 10 bis 11 Liter reinen Alkohol trinken die Deutschen im Jahr pro Kopf, weltweit sind es nur 5,5 Liter. So komme es bei vielen zum Selbstbetrug. Das zeigen die Studien, die Schomerus durchgeführt hat. „Je negativer jemand über Alkoholiker denkt, desto unkritischer schätzt man sein eigenes riskantes Verhalten ein.“ Schomerus plädierte wie Maio für ein zugewandtes Agieren mit Suchtkranke. „Die Verantwortung des Umfelds wird immer größer, je süchtiger ein Mensch ist, weil er die individuelle Verantwortung nicht hat.“