Menschennah | Geschichten aus Bethel
Ein Stück Heimat im Haus Ebenezer
„Ich war mir sicher, dass es niemals zu einem russischen Angriffskrieg kommt“, sagt Oksana Zakharchuk. Die vierfache Mutter hatte sich getäuscht. Als die Luftangriffe ihre Heimatstadt Riwne im Nordwesten der Ukraine erreichten, suchte sie mit ihren Kindern zunächst Zuflucht im Keller. „Dort unten verliert man schnell das Gefühl dafür, ob Tag oder Nacht ist“, erinnert sie sich. Ihr Mann befand sich zu Kriegsbeginn in Polen und flehte sie an, zu ihm zu kommen. „Aber ich wollte nicht weg. Ich hatte die Hoffnung, dass der Krieg schnell beendet wird“, so die Ukrainerin.
In Riwne bildete sich schnell Widerstand, die Bevölkerung bereitete sich auf eine Verteidigung vor. Für die Mutter war schließlich klar: „Wir müssen hier weg“. Am 6. März 2022 floh sie mit ihren Kindern zunächst nach Polen und dann gemeinsam ihrem Mann Yurii weiter nach Deutschland. Die Familie ließ alles zurück – ihr Zuhause, ihre Freunde, ihre Zukunftspläne – und fand schließlich Zuflucht in Bielefeld-Bethel.
Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen. Die Heimat fehlt, aber die Familie hat sich gut eingelebt: Oksana und Yurii Zakharchuk leben mit ihren Söhnen und Töchtern in der Ortschaft. Das Lehrerpaar arbeitet im Bethel-Haus Ebenezer, ihre Kinder besuchen ein Gymnasium, die 19-jährige Tochter nimmt an Sprachkursen teil. „Wir haben uns ein Nest gebaut und sind sehr dankbar“, betont Oksana Zakharchuk. Deutschland gebe ihnen Sicherheit.
Als die beiden im vergangenen Frühjahr von der Aufnahme geflüchteter Heimkinder mit Behinderungen in Bethel erfuhren, waren sie sofort entschlossen, mit anzupacken. „Wir sind alle Menschen in der gleichen Situation. Uns geht es gut und wir fühlen uns verpflichtet, zu helfen“, sagt Oksana Zakharchuk. Bereits seit Mai 2022 kümmern sich die beiden um die ukrainischen jungen Männer mit Behinderungen im Haus Ebenezer. Sie sind dort zwei von insgesamt zwölf Mitarbeitenden aus der Ukraine. Sie bereiten die Jungen für die Schule oder Arbeit vor, lesen vor, malen oder basteln gemeinsam.
Um den Kindern und Jugendlichen ein Stück Heimat ins Haus Ebenezer zu bringen, hat Oksana Zakharchuk einen gemütlichen Raum mit Ikonenbildern und einer kleinen Bibliothek mit ukrainischer Literatur hergerichtet. „Dieses Zimmer ist bei den Bewohnern sehr beliebt, weil es sie an Zuhause erinnert“, sagt Ellen Karacayli. Die Bereichsleiterin des Hauses Ebenezer ist froh über die tatkräftige Unterstützung. „Die beiden sind so motiviert. Oksana Zakharchuk hat gleich zu Beginn ein umfangreiches pädagogisches Konzept für die Bewohner geschrieben“, berichtet sie. Zwar arbeite das Ehepaar nicht in seinem ursprünglichen Lehrer-Beruf, aber sie nähmen ihre Aufgabe sehr ernst. In der Ukraine seien Lehrer vor allem Pädagogen, erklärt Ellen Karacayli. Nicht allein die Wissensvermittlung stehe im Vordergrund, sondern ebenso der Erziehungsauftrag. Es sei nicht selten, dass Lehrerinnen und Lehrer die Familien in ihrem Zuhause besuchen. Oksana und Yurii Zakharchuk sind froh, dass sie helfen können. „Wir haben die Kinder und Jugendlichen sehr ins Herz geschlossen.“
Text: Christina Heitkämper | Fotos: Sarah Jonek
Diese Geschichte einfach gesprochen
Oksana und Yurii Zakharchuk lebten mit ihren Kindern in der Ukraine. Als der Krieg ausbrach, floh die Familie nach Deutschland. Seit mehr als einem Jahr wohnt sie in Bielefeld-Bethel. Oksana und Yurii Zakharchuk unterstützen nun geflüchtete Jugendliche mit Behinderungen, die im Bethel-Haus Ebenezer eine Zuflucht gefunden haben.